DE / EN

BGH, Beschl. v. 25.10.2022 -5 StR 276/22: Zur Erforderlichkeit und dem Verteidigungs­willen bei der Notwehr

Sachverhalt (Rz. 5–8)

Der Angeklagte und der Mitangeklagte R trafen sich zur Abwicklung eines vom Letzteren angebahnten Ankaufs einer Pistole mit dem Nebenkläger. Der Angeklagte führte neben einem entsprechenden Geldbetrag eine Schusswaffe bei sich, um sich im Fall einer Auseinandersetzung zur Wehr setzen zu können. Es kam zu Unstimmigkeiten mit dem Nebenkläger, weil dieser vom Angeklagten zunächst die Übergabe des Geldes forderte. Nachdem er zwischenzeitlich mit seinem Motorrad davongefahren war, kehrte der Nebenkläger nach einigen Minuten in Begleitung des Zeugen M. zurück. Dieser forderte vom Angeklagten ebenfalls, zuerst den Kaufpreis zu bezahlen. Der Angeklagte holte darauf das Geld aus seiner Jackentasche und zeigte es vor. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang dazu sprühte der Nebenkläger mit einem Pfefferspray in Richtung des Angeklagten, der davon jedenfalls auch im Gesicht getroffen wurde. Entweder vor dem Einsatz des Pfeffersprays oder unmittelbar danach entriss der Zeuge M. dem Angeklagten das Geld. Der Angeklagte, bei dem es sich um einen besonders geübten Schützen handelt, holte sodann den mitgeführten Revolver aus der Tasche. Dies sahen der Nebenkläger und der Zeuge M., drehten sich um und rannten zum Motorrad des Nebenklägers zurück. Der Angeklagte lief ihnen hinterher und forderte sie erfolglos zur Rückgabe des Geldes auf. Da beide weiter flüchteten, schoss er nun mindestens zweimal in schneller Folge gezielt auf Oberkörperhöhe in Richtung des Nebenklägers und des Zeugen M., die sich zwei bis drei Meter von ihm entfernt befanden, verfehlte sie jedoch. Als der Nebenkläger auf der Höhe eines Stichwegs ankam, in den der Zeuge M. bereits abgebogen war, drehte er sich für einen kurzen Augenblick um. Der zu diesem Zeitpunkt etwa 20 bis 25 Meter entfernte Angeklagte zielte und schoss mindestens ein weiteres Mal auf ihn. Das Projektil traf den Nebenkläger an der Körpervorderseite unterhalb des Schlüsselbeins. Trotzdem schaffte es der lebens­gefährlich verletzte Nebenkläger, in den Stichweg einzubiegen und weiter zu laufen. Der Angeklagte brach sodann die weitere Verfolgung ab, weil er davon ausging, dass er die Fliehenden nicht mehr würde einholen können.
Bei allen Schüssen nahm der Angeklagte den Tod der anvisierten Personen zumindest billigend in Kauf. Das Landgericht ist zu seinen Gunsten davon ausgegangen, dass er auch mit dem Willen handelte, sich gegen die Entwendung des Geldes zur Wehr zu setzen.

Das Landgericht hat eine Rechtfertigung der drei Schüsse als Notwehr (§ 32 StGB) verneint. Zwar sei eine Notwehrlage gegeben gewesen, da sich der Angeklagte während der gesamten Tatzeit einem rechts­widrigen und noch gegenwärtigen Angriff auf sein Besitzrecht an dem entwendeten Geld ausgesetzt gesehen habe. Zu dessen Abwehr habe er aber nicht mindestens dreimal gezielt auf die Oberkörper des Nebenklägers und des Zeugen M. schießen dürfen, da es sich hierbei nicht um das mildeste, ihm in der konkreten Kampflage zur Verfügung stehende Mittel gehandelt habe. Er sei zwar nicht gehalten gewesen, den Waffengebrauch vorher verbal anzudrohen, da der Nebenkläger und der Zeuge M. seinen Revolver bereits gesehen hätten. Allerdings sei ihm zuzumuten gewesen, vor einem potentiell tödlichen Einsatz zunächst ungezielte Warnschüsse abzugeben und im Anschluss erst auf weniger sensible Körperteile zu schießen, um die Angreifer von der Sicherung der Tatbeute abzuhalten. Solche Schüsse seien dem Angeklagten als besonders geübten Schützen auch möglich gewesen; ein unzumutbares Risiko eines Fehlschlags sei damit nicht einhergegangen.

Aus den Gründen:

Ersten beiden Schüsse (Rz. 10–12)

Für die ersten beiden, bereits auf die Oberkörper der Fliehenden zielenden Schüsse des Angeklagten hat das Landgericht zutreffend angenommen, dass sie nicht im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich waren. Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Für den lebens­gefährlichen Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen gilt dabei, dass ein solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er, wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfun­fähig zu machen. Zumindest Schüsse der letztgenannten Art auf weniger sensible Körperregionen wären dem Angeklagten hier möglich gewesen, ohne dabei die Erfolgs­chancen seiner Verteidigung in relevantem Umfang zu schmälern, da er sich bei Abgabe der Schüsse nur zwei bis drei Meter hinter den Fliehenden befand und er zudem im Umgang mit einer Schusswaffe erfahren war. Seine sofortigen Schüsse auf die Oberkörper entsprachen daher nicht der mildesten ihm zu Gebote stehenden Abwehr­möglichkeit.

Dritter Schuss (Rz. 13–22)

Für den dritten Schuss hat das Landgericht dagegen nicht in den Blick genommen, dass sich im Verlauf des Tatgeschehens Umstände geändert haben, die für die Voraussetzungen der Notwehr wesentlich sind. Ausgehend hiervon hat es unzureichende Feststellungen getroffen, die es dem Senat nicht erlauben, die mögliche Erforderlichkeit des Schusses als Notwehrhandlung zu überprüfen. Das Landgericht hat über dieses Kriterium zudem nicht wie geboten anhand der konkreten tatsächlichen Umstände entschieden. Zu beurteilen ist die Erforderlichkeit der Verteidigungs­handlung auf der Grundlage einer objektiven ex ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungs­handlung. Der Angegriffene ist grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Er muss auf weniger gefährliche Verteidigungs­mittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehr­wirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht.

Ausgehend hiervon erlauben es die vorhandenen Feststellungen jedoch schon nicht zu beurteilen, ob der dritte Schuss eine Beseitigung der Gefahr überhaupt ermöglichte, mithin ob er zur Abwehr des Angriffs auf das Besitzrecht des Angeklagten geeignet war. Dies unterliegt Zweifeln, weil der dritte Schuss – anders als die ersten beiden Schüsse – allein auf den Nebenkläger abgegeben wurde. Trug der Zeuge M. , der die Geldscheine entrissen hatte, sie auch bei Abgabe des dritten Schusses noch bei sich, so erscheint fraglich, inwiefern eine Unterbindung der Flucht des Nebenklägers noch zur Abwehr des Angriffs hätte beitragen können. Dazu hätte das Handeln des Angeklagten schließlich die Aussicht bieten müssen, eine Beutesicherung durch den bereits vorauseilenden Zeugen M. noch zu verhindern. Das Landgericht hat nicht festgestellt, ob sich das Geld bei Abgabe des dritten Schusses noch beim Zeugen M. oder aber beim Nebenkläger befand. Dies hätte hier jedoch allenfalls dann offen bleiben dürfen, wenn aus der gebotenen ex ante-Sicht gar nicht erkennbar gewesen sein sollte, welcher der Fliehenden das entwendete Geld mit sich führte, denn dann wäre aus dieser Perspektive jeder Schuss als chancenerhöhend für die Abwehr anzusehen gewesen, unabhängig davon, auf wen von beiden er abgegeben wurde. Auch über diese Frage geben die Urteilsgründe aber keine Auskunft. Im Einzelnen:

Für die gebotene ex ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des Angeklagten nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildenden tatrichterlichen Überzeugung darstellt. Geprägt wird die „Tatsituation“ eines Verteidigers dabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Er­kenntnishorizont; maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers. Für den Angeklagten war diese Perspektive naheliegend insofern limitiert, als ihm das Geld in einem plötzlich beginnenden, dynamischen Geschehen entrissen und zudem gegen ihn Reizgas eingesetzt worden war. Die Jugendkammer ist zwar davon ausgegangen, dass dies die Seh­fähigkeit des Angeklagten „nicht signifikant“ verschlechtert hatte, konnte aber nicht ausschließen, dass er jedenfalls „im Gesicht getroffen und dementsprechend beeinträchtigt“ war. Aus der beschriebenen Perspektive bildete die Verhinderung der Flucht des Nebenklägers schon dann eine geeignete Abwehrhandlung, wenn der Verbleib des Geldes nicht erkennbar gewesen sein sollte. Denn aus dieser Sicht wäre dann von der Möglichkeit auszugehen gewesen, dass der Nebenkläger das Geld mit sich führte, so dass der Schuss auf ihn eine Chance zum Erhalt der von den Angreifern noch nicht endgültig gesicherten Beute begründen konnte. Eine für den Angeklagten nur ex post zu erlangende Kenntnis davon, dass sich das Geld beim Zeugen M. befand, würde dies nicht in Frage stellen; dies fällt vielmehr in das Risiko der Angreifer. Ob aus der umschriebenen Perspektive erkennbar war, wo sich das Geld befand, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Erschließbar ist dies auch nicht daraus, dass das Landgericht einen Verteidigungs­willen des Angeklagten bejaht hat. Dies gilt schon deswegen, weil das Landgericht auch bei der Prüfung des Verteidigungs­willens dem Verlauf des Tatgeschehens nicht wie geboten Rechnung getragen hat. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff des Verteidigers zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. Dies stünde in Frage, sollte der Angeklagte den dritten Schuss auf den Nebenkläger in der Vorstellung abgegeben haben, dass dieser das Geld gar nicht bei sich trug. Einen solchen Zusammenhang hat die Jugendkammer jedoch nicht erkennbar bedacht; vielmehr hat sie einen Verteidigungs­willen zugunsten des Angeklagten lediglich nicht auszuschließen vermocht und sich dabei allein auf eine vom Angeklagten behauptete Rückgabeaufforderung gestützt, die dieser bereits vor Abgabe der ersten beiden Schüsse an den Nebenkläger und den Zeugen M. gerichtet haben will. Damit hat die Jugendkammer keine Feststellung dahingehend getroffen, dass aus der Position des Verteidigers eine Er­kenntnis­möglichkeit oder beim Angeklagten gar eine positive Vorstellung dazu bestanden hätte, welcher der beiden Fliehenden das Geld bei sich führte. Somit bleibt auch in diesem Zusammenhang offen, ob er durch den Schuss den Angriff überhaupt noch abwehren konnte.

Bei seiner Einschätzung der Erforderlichkeit des dritten Schusses hat das Landgericht zudem die zwischenzeitliche Änderung der äußeren Umstände außer Betracht gelassen. Die maßgebliche „Kampflage stellte sich bei Abgabe des dritten Schusses ganz anders dar als bei den vorangegangenen Schüssen: Der Nebenkläger war vom Angeklagten nun bereits 20 bis 25 Meter entfernt, der Zeuge M. zuvor schon in einen Stichweg abgebogen. Ex ante lag damit nahe, dass ein Entkommen des Nebenklägers aus dem Schussfeld nun unmittelbar bevorstand und dem Angeklagten nur noch Gelegenheit zu einem letzten Schuss verblieb, um dies zu verhindern. Da die beiden gezielten, ihn allerdings verfehlenden Schüsse den Nebenkläger von seiner Flucht nicht abgehalten hatten, konnte dies realistisch nur noch durch einen Treffer gelingen. Diese Änderung der Gegebenheiten hätte das Landgericht berücksichtigen müssen bei seiner Annahme, wonach ein solcher Treffer für den Angeklagten auch beim dritten Schuss bei einem Zielen auf die Beine noch immer mit gleicher Wahrscheinlichkeit erreichbar gewesen wäre wie bei einem Zielen in Richtung des Oberkörpers. Die Jugendkammer hat Schüsse auf die Beine gerade deshalb für möglich erachtet, weil der Angeklagte ein geübter Schütze ist. Sie ist also offenbar davon ausgegangen, dass die sich bewegenden Beine eines Fliehenden schwieriger zu treffen sind als sein Oberkörper. Dann hätte sie allerdings in ihren prognostischen Vergleich der Erfolgwahrscheinlichkeiten einstellen müssen, dass der Angeklagte den dritten Schuss unter weit ungünstigeren Bedingungen abgab als die ersten beiden Schüsse, bei denen er seine Ziele schon verfehlt hatte: Was aus einer Entfernung von lediglich zwei bis drei Meter gelingen konnte, muss aus rund zehnfacher Distanz keineswegs genauso erreichbar gewesen sein. Befanden sich die Fliehenden bei den ersten beiden Schüssen noch in einem weiten Schussfeld, so bestand beim dritten Schuss zudem wahrscheinlich keine Wiederholungs­möglichkeit mehr. Zu bedenken gewesen wäre bei der Beurteilung schließlich auch, dass an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungs­handlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen.

Subsumtion (Rz. 23–26)

Das Landgericht hat die drei Schüsse rechtlich einheitlich gewürdigt. Da diese unter sich ändernden Bedingungen abgegeben wurden, hätte es jedoch einer differenzierenden Betrachtung und in deren Konsequenz zusätzlicher Feststellungen bedurft. Die Sache bedarf daher insgesamt der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung.

Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls Feststellungen dazu zu treffen haben, bei welchem Angreifer sich das entwendete Geld zum Zeitpunkt der Abgabe des dritten Schusses befand. Für den Fall, dass nicht der Nebenkläger, sondern der Zeuge M. es bei sich trug, bedarf es auch Feststellungen dazu, ob dies für einen sorgfältig beobachtenden Verteidiger erkennbar war. Sollten Feststellungen möglich sein zur konkreten Vorstellung des Angeklagten, so käme auch ihr Relevanz zu: Sollte das Tatgericht zu der Überzeugung gelangen, dass der Angeklagte positiv von einem Besitz des Zeugen M. ausging, so kann dies die erneute Annahme eines auch beim Schuss auf den Nebenkläger noch fortbestehenden Verteidigungs­willens in Frage stellen. Sollte der Angeklagte dagegen irrtümlich einen gar nicht bestehenden Besitz des Nebenklägers angenommen haben, könnte dies unter dem Gesichtspunkt der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts als ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB Bedeutung erlangen.

Zum Volltext