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Zum Brexit: Rule the waves or waive the rules?

Lesen Sie hier das Editorial von Prof. Kainer in der NJW 2021/Heft 3.

Aus der NJW, Editorial zu Heft 3:

 

An Hei­lig­abend – eine Woche vor Ab­lauf der Über­gangs­frist – haben sich die EU und das Ver­ei­nig­te Kö­nig­reich auf ein Han­dels- und Ko­ope­ra­ti­ons­ab­kom­men (HKA) ge­ei­nigt, das nach An­nah­me im Rat und Ra­ti­fi­ka­ti­on durch das bri­ti­sche Par­la­ment (die des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments steht noch aus) zu­nächst vor­läu­fig an­wend­bar ist. Der Aus­tritts­pro­zess war schwie­rig und litt daran, dass Lon­don lange kein in­nen­po­li­ti­scher Kon­sens über die Be­deu­tung des Brexit ge­lang. Zwi­schen­zeit­lich hatte sich die Re­gie­rung von The­re­sa May sogar auf den Ver­bleib in der eu­ro­päi­schen Zoll­uni­on fest­ge­legt, fand für ihren „Deal“ aber keine Mehr­heit im Un­ter­haus. Durch­ge­setzt hat sich schlie­ß­lich die klei­ne „Eu­rope­an Re­se­arch Group“ mit ihrem Ruf aus der „Rule, Bri­tan­nia!“: „Bri­tons never shall be slaves!“

Her­aus­ge­kom­men ist ein hoch­kom­ple­xer in­ter­na­tio­na­ler Ver­trag, der jedes Ele­ment su­pra­na­tio­na­ler Rechts­wir­kung aus­drück­lich zu­rück­weist. Im Span­nungs­feld zwi­schen den kon­ti­nen­ta­len Kern­zie­len (Schutz des Bin­nen­markts und der In­te­gri­tät des Uni­ons­rechts) und dem bri­ti­schen Ruf nach Sou­ve­rä­ni­tät („Take back con­t­rol!“) konn­te nur ein Mi­ni­mal­kon­sens ge­lin­gen, der zwar den zoll- und kon­tin­gent­frei­en Zu­gang für aus der EU oder dem Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reich stam­men­den Waren vor­sieht, je­doch kei­nen Abbau von nicht­ta­rifä­ren Han­dels­hemm­nis­sen. Damit sind zeit­auf­wen­di­ge Zoll­kon­trol­len (zu Ur­sprungs­re­ge­lun­gen und Pro­dukt­stan­dards) vor­pro­gram­miert. Dass die Dienst­leis­tungs­frei­heit weit­ge­hend auf das (nied­ri­ge) welt­han­dels­recht­li­che Ni­veau zu­rück­ge­führt wird, mag an­ge­sichts des hier po­si­ti­ven bri­ti­schen Han­dels­sal­dos er­stau­nen. Da Lon­don je­doch ge­ra­de im Fi­nanz­sek­tor Chan­cen in der Li­be­ra­li­sie­rung sieht („Sin­ga­pur an der Them­se“), kam eine Bin­dung an die ver­meint­lich wohl­stands­hem­men­den unio­na­len Re­gu­lie­run­gen als Preis für einen of­fe­nen Markt­zu­gang nicht in Frage. Durch­ge­setzt hat sich Brüs­sel mit der For­de­rung nach Wett­be­werbs­gleich­heit: Es gel­ten die EU-Wett­be­werbs- und Bei­hil­fe­re­ge­lun­gen. Re­gu­la­to­ri­sche Dif­fe­ren­zen (ins­be­son­de­re im Ar­beits-, So­zi­al- und Um­welt­schutz­recht) mit Aus­wir­kun­gen auf den Han­del kön­nen in einem kom­pli­zier­ten Ver­fah­ren durch ein­sei­ti­ge Ge­gen­maß­nah­men sank­tio­niert wer­den.

Für ein Fazit ist es noch zu früh. Ge­wiss ist aber, dass der Han­del und die eben­falls ver­ein­bar­te jus­ti­zi­el­le Zu­sam­men­ar­beit lei­den wer­den. Der er­reich­te Stand ist an­ge­sichts von Kün­di­gungs­rech­ten, der Über­prü­fungs­pflicht nach fünf Jah­ren sowie mög­li­cher Reba­lan­cing-Maß­nah­men un­si­cher – mit ne­ga­ti­ven Fol­gen für das In­ves­ti­ti­ons­kli­ma auf der Insel. Der Zu­wachs an na­tio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät ist für Lon­don also teuer er­kauft, zumal die Ein­heit des Kö­nig­reichs auf dem Spiel steht. Im Zeit­al­ter der Ver­schie­bung der wirt­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Macht­po­le nach Asien er­schallt der Ruf „Bri­tan­nia rule the waves!“ nur mehr als fah­les Echo ver­gan­ge­ner Zei­ten, zumal nach dem Aus­tritt die Be­deu­tung Bri­tan­ni­ens kaum stei­gen wird.

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