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BGH, Urt. v. 7.11.2016 – 2 StR 9/15: Zur Fehlbesetzung des Gerichts bei Nichtbeachtung des Mutterschutzes einer Richterin

Leitsatz:

Der nachgeburtliche Mutterschutz einer Richterin führt zu einem Dienstleistungs­verbot, das ihrer Mit­wirkung in der Hauptverhandlung entgegensteht. Deren Fortsetzung ohne Beachtung der Mutterschutz­frist führt zur gesetzwidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts.

Sachverhalt:

Die von der mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzten Strafkammer durchgeführte Hauptverhandlung begann am 24.8.2012 und endete am 11.4.2014. Daran wirkte eine Richterin als Berichterstatterin mit, die im Lauf der Hauptverhandlung schwanger wurde. Die Hauptverhandlung wurde daraufhin am 20.12.2013 bis zum 3.1.2014 unterbrochen. Im Fortsetzungs­termin war die Richterin nicht mehr schwanger. Die Verteidiger erhoben daraufhin einen Besetzungs­einwand, weil eine Richterin mitgewirkt habe, die kraft Gesetzes hiervon ausgeschlossen gewesen sei (§ 6 Abs. 1 MuSchG).

Aus den Gründen:

Die Strafkammer war nach Ansicht des BGH jedenfalls am 3.1.2014 falsch besetzt, „weil die Berichterstatterin infolge des absoluten Dienstleistungs­verbots aus § 6 I 1 MuSchG i.V.m. § 2 HRiG, § 95 Nr. 1 HBG und § 1 I 1 Nr. 2 HMuSchEltZVO an der Mit­wirkung in der Hauptverhandlung verhindert war.“ (Rn. 11) „Das absolute Dienstleistungs­verbot (…) ist zwingendes Recht.“ Dem Dienstherrn „ist eine Beschäftigung der Mutter auch dann untersagt, wenn diese einer Dienstleistung zustimmt oder sie gar verlangt.“ (Rn. 13)

„Der nachgeburtliche Mutterschutz kommt (…) in seinen Aus­wirkungen auf die Gerichtsbesetzung in der Hauptverhandlung einer Verhinderung wegen Dienstun­fähigkeit gleich (…).“ Kann die Zeit der Verhinderung nicht überbrückt werden, „ist das Gericht in der strafprozess­ualen Hauptverhandlung, für die – anders als in anderen Prozess­ordnungen – das Gebot der Kontinuität des Quorums und Anwesenheit der für das Urteil zuständigen Richter gemäß § 226 StPO gilt, nicht vorschriftsgemäß besetzt.“ (Rn. 14)

„Konnte die Hauptverhandlung nicht i.R.d. gesetzlichen Unterbrechungs­fristen gem. § 229 StPO mit der Richterin fortgesetzt werden und wurde eine die Mutterschutz­frist beachtende Unterbrechung nicht angeordnet, war von einer Verhinderung der Richterin an der weiteren Mit­wirkung in der Hauptverhandlung auszugehen. Da diese Folge auf einer gesetzlichen Regelung beruht, wurde zugleich in den Schutz­bereich des Art. 101 I 2 GG eingegriffen.“ (Rn. 15) Danach darf es „angesichts der zwingenden gesetzlichen Regelung nicht vom Willen der Richterin abhängig sein, ob sie weiter an der Hauptverhandlung mitwirkt oder das Dienstleistungs­verbot befolgt. Andernfalls wäre auch in einer Hauptverhandlung, in der ein Ergänzungs­richter i.S.v. § 192 II GVG zur Verfügung steht, dessen Eintritt in das Quorum vom willkürlichen Bejahen oder Fehlen der Bereitschaft der Richterin zum überobligations­mäßigen Einsatz abhängig.“ (Rn. 17)

„Aus der sachlichen Unabhängigkeit der Richterin gem. Art. 97 I GG ergibt sich nichts anderes. Die Schutz­bereiche des Art. 101 I 2 und des Art. 97 I GG sind voneinander zu unterscheiden (…). Kein Richter hat aufgrund von Art. 97 I GG einen Anspruch darauf, an einer Sachentscheidung durch Strafurteil mitzuwirken, wenn er (…) durch zwingende gesetzliche Vorschriften an der Mit­wirkung verhindert ist. Durch Art. 97 I GG wird allein die sachliche Unabhängigkeit des Richters im Fall der Begründung seiner Entscheidungs­zuständigkeit gewährleistet, nicht aber eine Unabhängigkeit dahin, über die Entscheidungs­zuständigkeit selbst zu disponieren.“ (Rn. 18)

„Art. 101 I 2 GG steht auch der Möglichkeit entgegen, die Besetzungs­frage im Rahmen einer Interessenabwägung von den Umständen des Einzelfalls, etwa dem Umfang und der Eilbedürftigkeit der Sache abhängig zu machen. Andernfalls wäre eine „bewegliche“ Mit­wirkungs­zuständigkeit ohne nachprüfbare normative Kriterien für die Entscheidung im Einzelfall eröffnet.“ (Rn. 19)

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