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OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.06.2016 – III – 1 Ws 63/16: Notwehr eines Erwachsenen gegen Erstklässler

Auch eine Ohrfeige eines Erwachsenen gegen einen Erstklässler kann im Einzelfall eine gebotene Notwehrhandlung gegen Schläge und Spucken aus einer Gruppe von Erstklässlern sein.

Sachverhalt:

A war als 1-Euro-Kraft an einer Grundschule angestellt und befand sich gemeinsam mit einem hauptamtlichen Pädagogen auf dem Hof. A goss verschiedenen Kindern einer Klasse Wasser auf die Hände, mit dem sich diese dann mit großem Spaß gegenseitig bespritzten. Hierbei ging es jedoch eher wild zu. Im Laufe der Zeit wurde A das Ganze zu viel und er zog sich in den hinteren Teil des Hofes zurück. Die spielenden Kinder verstanden nicht, dass A nicht mehr mit ihnen spielen wollte und nahmen seine verbalen Äußerungen hierzu nicht wahr oder befolgten sie zumindest nicht.  Ein Schüler, der zuvor bereits häufiger Verhaltensauffälligkeiten gezeigt hatte, schlug A. Auch weitere Schüler stürmten auf A ein. A wurde nun von 5 bis 10 Kindern geschlagen und bespuckt. A überlegte, wie er sich aus dieser Situation befreien konnte, dabei war ihm bewusst, dass die Kinder diese Angriffe zunächst „spaßig“ gemeint hatten. A fühlte sich auch nicht in seiner Ehre gekränkt, dachte jedoch „es reicht“ und wollte „die Situation deeskalieren“ und auch weitere Schläge abwehren.

Bei der Beendigung der Angriffe bezog A die Möglichkeit mit ein, den mit dem Rücken zu ihm sitzenden Kollegen um Hilfe zu bitten, unterließ dies jedoch, weil er sich von diesem ohnehin nicht akzeptiert fühlte. Er fürchtete ferner, dass er Sanktionen der Sozialbehörde zu erwarten hätte, wenn er sich für kurze Zeit in das Schulgebäude zurückzöge. Ihm war auch bewusst, dass er den Erstklässlern körperlich massiv überlegen war und erwog, die Kinder wegzutragen oder festzuhalten, hielt dies aber für entwürdigender als eine Ohrfeige; die Kinder wegzuschubsen hielt er für zu gefährlich. Er entschloss sich den ihm am nächsten befindlichen Kind, eine – wie er wusste, für das Kind schmerzhafte – Ohrfeige zu versetzten, um die Situation zu beenden und alle anderen Kinder von weiteren Schlägen abzuhalten. Nach der Ohrfeige rief A: „Ich lasse mich nicht anspucken. Ich bin nicht Euer Fußabtreter.“ Die Kinder waren geschockt und beendeten die Angriffe auf A. Das LG hatte A wegen Körperverletzung nach § 223 I verurteilt.

Aus den Gründen:

Das OLG hat diese Entscheidung aufgehoben und A freigesprochen. Dabei stützt sich das OLG darauf, dass A in Notwehr gehandelt habe. Er wurde von fünf Kindern bespuckt und geschlagen. An der Angriffsqualität ändere sich auch durch die Schuldun­fähigkeit der Angreifer nichts. An diesem Angriff beteiligte sich auch der Geschädigte. A habe auch Verteidigungs­willen und keinesfalls die Absicht gehabt, die Kinder zu züchtigen. Das OLG stellt fest, die Ohrfeige sei zudem die erforderliche Verteidigungs­handlung gewesen. Sie sei geeignet gewesen, die Angriffe sofort zu beenden und hatte auch diese Wirkung. Ein milderes, gleich wirksames, insbesondere gleich schnelles Mittel habe A nicht zur Verfügung gestanden.

„Der Angegriffene darf sich grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt (...). Zwar hat der Angegriffene das relativ mildeste Mittel zu wählen, das gilt aber nur, sofern ihm mehrere Mittel der Gegenwehr zur Verfügung stehen, die in gleicherweise dazu geeignet sind, die sofortige Beendigung des Angriffs herbeizuführen. Maßgeblich ist insoweit die objektive ex-ante Beurteilung in der konkreten Tatsituation (...).“

Die verbale Ein­wirkung auf die Kinder hatte A versucht und bei der Eskalation der Situation sei auch nicht damit zu rechnen gewesen, dass weitere Versuche verbaler Abwehr Erfolg gehabt hätten. Zwar war das LG der Auffassung gewesen, dass ein Beseiteschieben oder Tragen ein milderes Mittel zu Abwehr gewesen wäre. Dem hält das OLG jedoch entgegen, dass nicht ersichtlich sei, dass dies dazu geführt hätte, dass die Kinder die Angriffe beendet hätten. Das OLG sah vielmehr die Gefahr einer Rangelei mit den Kindern mit ungewissen Folgen. Auch eine Inanspruchnahme des hauptamtlichen Pädagogen hielt das OLG ebenso für nicht geboten, wie das Verlassen des Hofes. Beide Möglichkeiten hätten – anders als die Ohrfeige – nicht die sofortige Beendigung der Angriffe erwarten lassen. Bei der Flucht hätte A mit einer Verfolgung rechnen müssen, und der Hilferuf an den Kollegen war deswegen nicht hinreichend sicher, weil dieser ebenfalls einen Teil der Klasse zu beaufsichtigen hatte. Dass A diese Möglichkeiten aus anderen Gründen verwarf, sei hier nicht relevant. Er habe objektiv keine andere Möglichkeiten als die Ohrfeige gehabt und darauf komme es an.

Die Ohrfeige sei auch geboten gewesen, obwohl der Angreifer aufgrund seines Alters schuldun­fähig war. Dazu führt das OLG aus: Die Einschränkungen des Notwehrrecht gegenüber nicht oder nur vermindert schuld­fähigen Angreifern seien noch nicht im Einzelnen geklärt. Es sei lediglich entschieden, dass die tätliche Notwehr gegen Ehrangriffe insofern besonders sorgfältig zu prüfen sei und ggf. auf Notwehr zu verzichten, wenn dies ohne substanzielle Rechts­einbußen möglich sei. „Im Fall der Abwehr eines Angriffs eines Kindes durch eine Ohrfeige hat die Rechts­prechung dagegen, freilich ohne ausdrückliche Erörterung etwaiger Einschränkungen des Notwehrrechts aufgrund der mangelnden Schuld­fähigkeit des Angreifers, ohne weiteres angenommen, dass eine Rechtfertigung nach den Grundsätzen des § 32 in Betracht kommt, sofern die sonstigen Voraussetzungen der Notwehr vorliegen.“

Es sei in der Literatur anerkannt, dass bei schuldun­fähigen Personen, insbesondere Kindern, Einschränkungen in Betracht zu ziehen seien. Hier werde dem Angreifer ein Ausweichen zugemutet, „wenn dies ohne substantiellen Rechts­verlust möglich ist“, ein „Verzicht auf maßlose Gegenwehr“ gefordert und „bei aktiver Gegenwehr die Beachtung des Verhältnismäßigkeits­grundsatzes im Hinblick auf die durch die Notwehrhandlung verhinderte Rechts­guts Verletzung und die auf Seiten des Angreifers durch die Notwehrhandlung verursachte Rechts­gutsverletzung verlangt (...).“ Andererseits wird aber auch die Auffassung vertreten, dass mit milden Abwehrhandlungen selbst Bagatellangriffen schuldlos Handelnder entgegengetreten werden darf. Solange diese keinen ernstzunehmenden Verletzungs­risiken ausgesetzt seien, bestehe kein Grund, ihnen eine allgemeine „Narrenfreiheit“ zu gewähren (...).“

Im vorliegenden Fall habe für A jedoch „keine Möglichkeit [bestanden], dem Angriff ohne substantiellen Rechts­verlust auszuweichen.„Das Ausweichen wäre zwangs­läufig mit weiteren Schlägen und weiterem Spucken verbunden gewesen. „Diese ihm drohende weitere Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität und seiner Ehre war nicht gänzlich unerheblich. Seine Gegenwehr durch das Ohrfeigen des ihm an nächsten stehenden Kindes war weder maßlos noch stand sie unter Würdigung der damit einhergehenden Wirkungen für das Kind außer Verhältnis zu der von dem Angeklagten auf diese Weise von sich selbst abgewendeten drohenden weiteren Rechts­gutsverletzungen. Zwar drohten dem Angeklagten durch die ohne die Ohrfeige zu erwartenden weiteren Schläge mehrerer Erstklässler keine erheblichen Verletzungen, aber solche erlitt auch ... durch die Ohrfeige nicht. Diese führte nach den getroffenen Feststellungen zwar zu nicht unerheblichen Schmerzen, die aber nach nur etwa 10 Minuten wieder abgeklungen waren. Im Übrigen blieb sie folgenlos.“

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