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LG Berlin, Urt. v. 27.02.2017 – 535 Ks 8/17: Zum Tötungs­vorsatz bei illegalen Straßenrennen und zum gemeingefährlichen Mittel

Tödliches Autorennen auf dem Kurfürstendamm als Mord

Aus den Ausführungen der Kammer zum Tötungs­vorsatz:
Die jüngere Rechts­prechung des Bundes­gerichtshofs stellt klar, dass Gleichgültigkeit gegenüber der erkannten Möglichkeit des Erfolgseintritts für den dolus eventualis bei Tötungs­delikten genügt. Ferner betont sie die Bedeutung der Größe und Anschaulichkeit der vom Täter wissentlich
geschaffenen Lebens­gefahr auch für das Willenselement des Vorsatzes. Liegt eine große und anschauliche Todesgefahr vor, so genügt das zur Begründung der Zuschreibung des dolus eventualis. Will das Tatgericht trotz einer solchen Gefahr keinen Vorsatz annehmen, so bedarf dies besonderer Begründung (...). Es geht auch bei der hier vorzunehmenden Vorsatz-Fahrlässigkeits-Abgrenzung um die einer revisionsgerichtlichen Über­prüfung standhaltenden vollständigen und nachvollziehbaren tatrichterlichen Beweiswürdigung und Überzeugungs­bildung im bzw. für den Einzelfall, der generalisierende Entscheidungs­regeln nicht gerecht werden können (...).

Auch der allein handelnde Schnellfahrer oder der an einem Rennen Teilnehmende bleibt eine Person, die ihren Verstand benutzen kann, Lebens- und Verkehrs­erfahrung gesammelt hat, eine theoretische und praktische Führerschein­prüfung abgelegt und bestanden hat und die grundsätzlich weiß und erkennen kann, dass ein höchstgefährlicher Fahrstil geeignet ist, den Tod und die Verletzung anderer Menschen zu verursachen. Raserei stellt keine seelische Krankheit dar
und schon bei durchschnittlicher Sinnes- und Geistesanspannung hat der Schnellfahrer im Ruhezustand die Möglichkeit des Insichgehens, Besinnens und der Er­kenntnis. Ob er sein Handeln danach ausrichtet, wird von ihm entschieden und im Rahmen der vorzunehmenden Vorsatz­prüfung durch das Gericht beurteilt.

Wissenselement:
Die Angeklagten haben demnach als wegen vielfach begangener Verkehrs­verstöße bereits sanktionierte Kraftfahrzeuglenker in Form eines Autorennens aus Gewinnstreben, angestrebter Selbstbestätigung und zwecks Demonstration der Stärke des eigenen Wagens zur Tatzeit ihre Fahrzeuge über die aufgezeigte Distanz über die Berliner Hauptverkehrs­adern Kurfürstendamm und Tauentzienstraße gelenkt, dabei ihre Geschwindigkeit beständig gesteigert, rotes Ampellicht missachtet und im Tatzeitpunkt den Geschädigten W tödlich verletzt, weil sie mit etwa dreifach überhöhter Geschwindigkeit bei für sie rotem Ampellicht mit Vollgas und ohne jegliche Einsichts­möglichkeit in die Unfallkreuzung eingefahren sind. Dies stellt ein in jeder Hinsicht halsbrecherisches Verhalten dar, das zum Tod oder zur Verletzung Dritter und auch der eigenen Person führen konnte. Im Hinblick auf den konkreten Fahrstil und die Tatörtlichkeiten war die hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren Verkehrs­unfalls naheliegend, zumal die Fahrstrecke nicht menschen- und autoleer war, die Fahrzeuge im Kurven­bereich an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Grenz­bereich des technisch Machbaren gelenkt wurden und sich die Gefährlichkeit der Handlung mit der Länge der gefahrenen Strecke kontinuierlich erhöhte, da damit auch die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls zunahm. Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller vorstehenden Umstände ist danach das Wissenselement des Eventualvorsatzes als gegeben anzusehen; denn die extreme Gefährlichkeit der Tathandlung war geeignet, jedem Verkehrs­teilnehmer, auch den in keinster Weise psychisch beeinträchtigten Angeklagten, deutlich vor Augen zu führen, dass ein solches Verhalten tödliche Folgen zeitigen konnte. Dies gilt insbesondere für die im Kollisionszeitpunkt erreichte Geschwindigkeit, die bezüglich der Handlung ein lediglich fahrlässiges Verhalten nicht mehr nahelegt (...). Insofern war es konsequent und folgerichtig, dass die Verteidigung das Wissenselement des bedingten
Tötungs­vorsatzes nicht in den Mittelpunkt ihrer Plädoyers gestellt hat.

Voluntatives (Wollens-) Element:
Bei der von der Kammer vorgenommenen Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände war auch das voluntative Element des bedingten Tötungs­vorsatzes zu bejahen. Die Angeklagten haben sich mit der tödlichen Tatbestandsverwirklichung abgefunden, wissentlich eine große, anschauliche und konkrete Lebens­gefahr geschaffen, sich gegenüber der erkannten Möglichkeit des Erfolgseintritts gleichgültig verhalten, waren aufgrund ihrer Motivation bereit, schwerste Folgen in Kauf zu nehmen, wobei sie den Tötungs­erfolg nicht wünschten und auch kein Tötungs­motiv hatten, sondern dem oben aufgezeigten Handlungs­antrieb nachgingen. Hinzu kommt, dass, wie vorstehend ausgeführt, die von ihnen eingehaltene Unfallgeschwindigkeit ein nur fahrlässiges Verhalten geradezu ausschließt und ihr Handeln auch vom Wortgehalt und auf einer möglichen Skala von fahrlässig falschem Verkehrs­verhalten nicht mehr erfasst wird. Die Angeklagten konnten im Tatzeitpunkt gerade nicht mehr ernsthaft darauf vertrauen, dass alles gut gehen werde, sondern sie überließen es bei Einfahrt in den Kreuzungs­bereich Tauentzienstraße/Nürnberger Straße dem Zufall, ob ein bevorrechtigtes Fahrzeug kreuzen werde und die Insassen den unausweichlichen Zusammenstoß überleben würden. Diese Konsequenzen waren ihnen in diesem Moment egal und gleichgültig; denn jeder von ihnen wollte aus dem Rennen als Sieger hervorgehen. Sie ließen es darauf ankommen und konnten nicht mehr ernstlich darauf vertrauen, ein Unfallgeschehen durch ihre Fahrgeschicklichkeit zu vermeiden, was insbesondere dadurch belegt wird, dass ein Vermeidungs­verhalten – ein Lenk- oder Bremsmanöver – nicht mehr vorgenommen wurde und auch objektiv nicht mehr möglich war.

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