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BGH, Beschl. v. 15.03.2023 – 2 StR 462/21: Zum versuchten Mord durch Unterlassen

Sachverhalt (Rz. 3–9)

Die Angeklagte F. gebar 2014 ihre Tochter A. , das spätere Tatopfer, zu der sie von Anfang an keine Bindung aufbauen konnte. Ab dem zweiten Lebens­jahr kümmerte sich die Angeklagte immer weniger um A. , ließ diese häufig und lange allein in ihrem Zimmer liegen. A. erhielt zu wenig Nahrung und zu wenig persönliche Zuwendung in Form von Ansprache, Beschäftigung und Anregungen, wodurch sie abmagerte, sich ihr Längenwachstum verlangsamte und sich ihre kognitiven, sprachlichen, motorischen und feinmotorischen Fähigkeiten nicht alters­gerecht entwickelten. Die Angeklagte erkannte diese negative Entwicklung. Ihr war auch bewusst, dass A. unter Hungergefühlen und der Zurückweisung litt. Die durch die Unterversorgung und Vernachlässigung entstehenden körperlichen und seelischen Schäden nahm sie angesichts ihrer ablehnenden Haltung gegenüber A. in Kauf. Im Februar 2019 zog der Angeklagte S. bei der Angeklagten F. – ein und nahm zunehmend auch die Stellung eines Familienvaters ein. Den Kontakt zu A. empfand er jedoch als unbefriedigend, er empfand sie als lästig und überließ daher der Angeklagten F. die Versorgung, deren Unzulänglichkeit und deren negative Folgen für das Kind er aber erkannte und billigend in Kauf nahm. Spätestens seit Mai 2020 – die Angeklagte F. war vom Angeklagten S. schwanger – war dem Angeklagten bewusst, dass er für das Wohl aller Familienangehörigen im Sinne einer Garantenstellung verantwortlich war. In der Folgezeit kümmerten sich die Angeklagten noch weniger um A. Ab dem 1. August 2020 erkannten die Angeklagten aufgrund des nunmehr kritischen Gewichtsverlustes und der erheblichen Verschlechterung des Zustands von A. (sie konnte nicht mehr selbst laufen oder stehen), dass deren Gesundheitszustand infolge der chronischen und massiven Unterernährung mittlerweile lebens­bedrohlich war und jederzeit mit dem Tod des Kindes gerechnet werden musste. Den Angeklagten war auch bewusst, dass A. bei ihren Bewegungen erhebliche Schmerzen erlitt. Die Hinzuziehung ärztlicher Hilfe zogen sie nicht in Betracht, aus Sorge, dass die schlechte Versorgung des Kindes behördenbekannt würde und eine Inobhutnahme auch des erwarteten dritten Kindes nach sich ziehen könnte. Den Tod A. s nahmen sie dabei – im Gegensatz zu der vorangegangenen Zeit, in der A. zwar dünn, aber nicht lebens­bedrohlich abgemagert erschien und in der Lage war, sich selbständig fortzubewegen – nunmehr billigend in Kauf. Zudem fügten sie A. auch weiterhin seelisches Leid zu, indem sie sie über Stunden in ihrem Kinderbett im abgedunkelten Zimmer ließen ohne Ansprache oder sonstige Zuwendung. Ihnen war bewusst, dass A. hier­unter litt, dies war ihnen jedoch gleichgültig.

Wahrheitswidrig behauptete F gegenüber ihrer Mutter und Mitarbeitern des Kindergartens und, es bestehe Verdacht auf Muskeldystrophie, welche sie ausführlich und als tödlich verlaufende Krankheit darstellte. An einem Tag behaupteten die Angeklagten bei einem Hausbesuch des Jugendamtes, das Kind sei nicht zuhause, obgleich sie es innerhalb der Wohnung vor den Mitarbeitern des Jugendamtes versteckt hielten.

A. wurde schließlich auf Intervention des vom Kindergarten eingeschalteten Jugendamtes am 27. August 2020 zu einem Kinderarzt gebracht und von dort ob ihres lebens­bedrohlichen Zustands umgehend in ein Krankenhaus. A. wurde nach medizinischer Versorgung in einer heilpädagogischen Einrichtung untergebracht. Ob sie die auf die Mangelversorgung zurückzuführenden körperlichen und kognitiven Entwicklungs­verzögerungen jemals aufholen kann, ist unklar.

Aus den Gründen (Rz. 18)

Es wurde dargetan, dass A. ab dem 1. August aufgrund der ihr vorenthaltenen Nahrung an erheblichen Schmerzen litt; Die Strafkammer hat sich die Überzeugung davon verschafft, dass A. einen Muskelabbau erlitt, so dass sie jedenfalls über einen längeren Zeitraum bis zum 27. August 2020 schon bei einfach­ster Bewegung Schmerz verspürte und nicht stehen und laufen konnte. Dieser den Angeklagten bekannte und bewusste Zustand A. s – sie verzog bei jeder Bewegung schmerzhaft das Gesicht – belegt hinreichend eine gefühllose und unbarmherzige Gesinnung der Angeklagten und deren Billigung von Tatumständen, welche es bedingen, dass dem Opfer durch die Tötungs­handlung besondere Schmerzen oder Qualen im Sinne des Mordmerkmals „grausam“ zugefügt werden.

Ein Quälen und eine rohe Misshandlung im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB liegen darin, dass die Angeklagten durch die dauerhaft mangelnde Nahrungs­zufuhr nicht nur ein anfängliches Hungergefühl bei A. (ein fortdauerndes quälendes Hungergefühl hat die Strafkammer nicht festzustellen vermocht), sondern für einen längeren Zeitraum erhebliche Bewegungs­schmerzen verursachten, und dass sie A. in diesem Zeitraum auch ohne Ansprache und Zuwendung allein „über Stunden in ihrem Kinderbett im abgedunkelten Zimmer liegen ließen“, was seelisches Leid verursachte. Dass beiden Angeklagten in dem Zeitraum ab dem 1. August 2020 nicht nur der körperliche Abbau, sondern auch das seelische Leid von A. bewusst war, und sie dies fortwährend ignorierten, belegt hinreichend, dass die Angeklagten das Gefühl für das Leiden der Misshandelten verloren hatten, das sich bei jedem menschlich und verständlich Denkenden eingestellt haben würde, mithin ihre gefühllose Gesinnung.

Böswillig im Sinne von § 225 Abs. 1 3. Variante StGB handelt, wer seine Pflicht für einen anderen zu sorgen, aus einem verwerflichen Beweggrund vernachlässigt; das Gesinnungs­merkmal der Böswilligkeit ist gekennzeichnet durch feindseliges Verhalten aus Bosheit, Lust an fremdem Leid, Hass und anderen verwerflichen Gründen, etwa auch aus Geiz und Eigensucht; Gleichgültigkeit, Abgestumpftheit oder Schwäche sowie Überforderung wegen mangelnder Reife reichen hingegen in der Regel nicht aus.

Der Annahme eines Verdeckungs­mordes steht grundsätzlich nicht entgegen, dass sich bereits die zu verdeckende Vortat gegen Leib und Leben des Opfers richtet oder die Tat mit bedingtem Vorsatz und durch Unterlassen begangen wurde. Auch kann für eine Absicht der Eltern, die vorangehende Misshandlung Schutz­befohlener durch den Tod des Opfers zu verdecken, und damit für das Vorliegen des Mordmerkmals der Verdeckungs­absicht sprechen, dass sie niemanden mehr zu dem Kind ließen, weil sie die lebens­bedrohliche Verschlechterung des Zustandes des Kindes bemerkten und weil sie die Einschaltung des Jugendamtes fürchteten, und dass sie Dritten gegenüber wahrheitswidrige Angaben zum Gesundheitszustand des Kindes machten.

Um eine zu verdeckende „andere Straftat“ (§ 211 Abs. 2 StGB) handelt es sich jedoch dann nicht, wenn der Täter nur diejenige Tat verdecken will, die er gerade begeht. Handelte der Täter bereits von Anfang an mit (bedingtem) Tötungs­vorsatz, ist für die Annahme eines Verdeckungs­mordes kein Raum. Es fehlt folglich an einer für das Mordmerkmal der Verdeckungs­absicht erforderlichen „anderen“ Straftat, wenn der Täter das Tatopfer zunächst mit (bedingtem) Tötungs­vorsatz misshandelt und es anschließend unterlässt, zur Verdeckung dieses Geschehens Maßnahmen zur Rettung des überlebenden Opfers einzuleiten; ist diese Möglichkeit nicht auszuschließen, muss sie wegen des Zweifelsgrundsatzes gegebenenfalls zugunsten des Angeklagten angenommen werden.

Subsumtion (Rz. 10, 26, 34)

Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als gemeinschaft­lich begangenen versuchten Mord durch Unterlassen in Tateinheit mit Misshandlung von Schutz­befohlenen (§ 225 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB) gewürdigt. Die Angeklagten hätten mit bedingtem Tötungs­vorsatz gehandelt, wobei die Strafkammer den Zeitpunkt für dessen Vorliegen „zu ihrer zweifelsfreien Überzeugung“ erst ab dem 1. August 2020 angenommen hat. Die Angeklagten handelten überdies – mit Blick auf die Schmerzen von A. – nicht nur grausam, sondern „spätestens seit dem 1. August 2020 mit der Absicht […], die vorausgegangene Misshandlung der ihnen als Schutz­befohlene unterstellten A. zu verdecken“; indes hätten die Angeklagten weder heimtückisch noch aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Tateinheitlich hierzu hätten die Angeklagten durch ihr Verhalten in dem von der Anklage umfassten Zeitraum A. gequält und roh misshandelt – die Angeklagte F. sie überdies böswillig vernachlässigt – und hierdurch in die Gefahr des Todes gebracht.

Indes begegnet die Annahme der Strafkammer, die Angeklagten hätten ab dem 1. August 2020 auch mit der Absicht gehandelt, die schwere Misshandlung von A. zu verdecken, durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Insoweit lassen die Urteilsgründe besorgen, dass das Landgericht den Zweifelsgrundsatz nicht beachtet hat.

Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls auch Gelegenheit haben, zu prüfen, ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit mit Blick auf die festgestellten Bemühungen, hilfsbereite Personen am Einschreiten zugunsten des Kindes zu hindern, eine Einordnung des Verhaltens der Angeklagten als positives Tun erlaubt. Es wird gegebenenfalls auch die Voraussetzungen der „anderen niedrigen Beweggründe“ im Sinne des § 211 StGB näher in den Blick nehmen und erörtern können.

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