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BGH, Beschl. v. 03.01.2024 – 5 StR 449/23: Zur Schuld­fähigkeit

Leitsätze 

  1. Die tatrichterliche Schuld­fähigkeits­prüfung hat schrittweise zunächst die Feststellung einer die Eingangsmerkmale des § 20 StGB erreichenden psychischen Störung sowie anschließend deren Einfluss auf die soziale Anpassungs­fähigkeit des Täters und dessen psychische Funktions­fähigkeit bei der Tatbegehung zu umfassen. (Rn. 7) 
  2. Folgt das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen, sind die wesentlichen Anknüpfungs­tatsachen und Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechts­mittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer trag­fähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungs­sätzen des täglichen Lebens und den Er­kenntnissen der Wissenschaft möglich sind. (Rn. 8) 
  3. Bei nicht pathologisch bestimmten Störungen – wie zB einer Persönlichkeits­störung – muss das Tatgericht ohne Bindung an die Wertung des Sachverständigen in einer Gesamtschau klären, ob sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten und einengen. Das Tatgericht ist gehalten, zum einen konkrete Feststellungen zu den handlungs­leitenden Aus­wirkungen der Störung zum Zeitpunkt der Tat zu treffen und zum anderen auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung von Persönlichkeit, Lebens­geschichte, Lebens­umständen und Verhalten des Angeklagten in nachprüfbarer Weise dazulegen, worin der „Zustand“ des Täters besteht. (Rn. 12) 
  4. Das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit erfasst gerade solche Veränderungen der Persönlichkeit, die nicht pathologisch bedingt sind und kann deshalb auch vorliegen, wenn die Persönlichkeits­störung des Täters nicht als krankhaft zu bezeichnen ist. (Rn. 14) 
  5. Im Falle der Kombination einer auffälligen Persönlichkeit des Angeklagten mit dem Konsum von Alkohol und/oder Betäubungs­mitteln bei Tatbegehung ist in einer Gesamtbetrachtung festzustellen, ob die enthemmende Wirkung des Rauschmittelkonsums im Zusammenwirken mit der besonderen Persönlichkeits­ausprägung eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungs­fähigkeit zur Folge haben konnte. (Rn. 15) 

Sachverhalt (Rn. 1–2) 

Nach den Feststellungen des Landgerichts drohte der vielfach wegen Gewaltdelikten vorbestrafte Angeklagte während des Vollzugs einer Unter­suchungs­haft in anderer Sache an, die nächste Person „abzustechen“, die seinen Haftraum betrete. Wegen seiner Gegenwehr konnten Vollzugsbeamte ihn anschließend nur unter Anwendung eines Kreuzfesselgriffs in einen besonders gesicherten Haftraum verbringen. Nach Entlassung aus der Haft griff der Angeklagte im Zeitraum weniger Monate mehrfach ihm überwiegend vollkommen unbekannte Personen an, die er an Bahnhöfen antraf und auf die er zum Teil mit der Faust, zum Teil aber auch mit abgebrochenen Glasflaschen einschlug. Einem Geschädigten stach er mit großer Wucht und bedingtem Tötungs­vorsatz ein Einhandmesser mit einer Klingenlänge von 10 cm in den Rücken. 

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Körperverletzung in drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, wegen Widerstands gegen Vollstreckungs­beamte sowie wegen Bedrohung verurteilt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts. 

Aus den Gründen (Rn. 5–15) 

Der Strafausspruch kann keinen Bestand haben, da er auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Über­prüfungs­maßstabs durchgreifende Rechts­fehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist. 

Die Schuld­fähigkeits­prüfung des Schwurgerichts entspricht nicht den hierfür bestehenden Anforderungen. Für diese gilt: Ob die Schuld­fähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, ist prinzipiell mehrstufig zu prüfen. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungs­grad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungs­fähigkeit des Täters zu unter­suchen. Das Tatgericht hat die Schuld­fähigkeit dabei ohne Bindung an die Äußerungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beurteilen. Beschränkt sich das Tatgericht – wie hier – darauf, sich der Beurteilung eines Sachverständigen anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungs­tatsachen und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, dass das Rechts­mittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer trag­fähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungs­sätzen des täglichen Lebens und den Er­kenntnissen der Wissenschaft möglich sind. 

Das Schwurgericht hat den Angeklagten hinsichtlich der Taten für voll schuld­fähig erachtet. Dazu hat sich das Landgericht umfassend den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, zu denen die Urteilsgründe im Wesentlichen Folgendes mitteilen: 

Beim Angeklagten bestehe eine Abhängigkeits­erkrankung hinsichtlich Alkohol, Cannabis und Kokain. Psychiatrische Erkrankungen oder Krankheits­bilder, welche ein Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB verwirklichen, lägen beim Angeklagten nicht vor. Er erfülle „die Kriterien einer Psychopathie in hohem Maße mit dissozialen, narzisstischen und emotional-instabilen Anteilen, die allerdings keine krankheits­wertige Persönlichkeits­störung“ darstelle, „keinen Krankheits­wert für eine psychiatrische Erkrankung im eigentlichen Sinne aufweise“ und „keinem psychiatrischen Krankheits­bild entspreche“. Ein möglicher Konsum von Alkohol und/oder Betäubungs­mitteln könne zwar zu einer Gewaltenthemmung geführt haben; Ursache für sein aggressives Verhalten sei aber vordringlich die Persönlichkeit des Angeklagten. Sein auf Videoaufnahmen zu erkennendes auffälliges Verhalten sei seiner psychopathischen Persönlichkeit immanent und entspreche dem Grundmuster seiner Gewalt­tätigkeit an Bahnhöfen. 

Diese Ausführungen genügen den vorstehenden Anforderungen in mehrfacher Hinsicht nicht. 

1. Aus den Ausführungen des Schwurgerichts wird nicht erkennbar, warum bei dem Angeklagten, der nach den Urteilsgründen schon im unmittelbaren Vorfeld mehrerer Taten ein nicht näher beschriebenes „auffälliges“ Verhalten zeigte, zwar eine „Psychopathie“ bejaht, eine „krankheits­wertige Persönlichkeits­störung“ aber verneint wurde. Bei Letzterem bleibt offen, ob schon die medizinischen Kriterien nicht erfüllt waren, die für die Diagnose einer Persönlichkeits­störung bestehen, oder ob eine solche zwar bestand, aber in ihrer Intensität nicht 

zur Erfüllung einer schweren anderen seelischen Störung genügte. Bei nicht pathologisch bestimmten Störungen, etwa im Fall der Diagnose einer Persönlichkeits­störung, muss das Tatgericht jedoch ohne Bindung an die Wertung des Sachverständigen in einer Gesamtschau klären, ob sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten und einengen. Das Tatgericht ist gehalten, zum einen konkrete Feststellungen zu den handlungs­leitenden Aus­wirkungen der Störung zum Zeitpunkt der Tat zu treffen und zum anderen auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung von Persönlichkeit, Lebens­geschichte, Lebens­umständen und Verhalten des Angeklagten in nachprüfbarer Weise dazulegen, worin der „Zustand“ des Täters besteht. 

2. Schon wegen dieser Unbestimmtheit genügte es vorliegend auch nicht, den normabweichenden Verhaltensweisen des Angeklagten lediglich einen „Krankheits­wert“ abzusprechen, um ein etwa in Betracht kommendes Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB – wobei es im Urteil an jeder Einordnung hierzu fehlt – in qualitativer Hinsicht verneinen zu können. Denn die kontextlose Verwendung dieses Begriffs lässt offen, ob damit allein eine fehlende pathologische Bedingtheit der Störung des Angeklagten zum Ausdruck gebracht oder aber das Ausmaß der mit ihr verbundenen Beeinträchtigungen als den krankhaften seelischen Störungen nicht gleich­gewichtig charakterisiert werden sollte. Ersteres hätte dazu dienen können, das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung auszuschließen. Letzteres hätte darauf zielen können, das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung zu verneinen, welche anders als die krankhafte seelische Störung gerade solche Veränderungen der Persönlichkeit erfasst, die nicht pathologisch bedingt sind, und deshalb auch dann vorliegen kann, wenn die Persönlichkeits­ausprägung des Täters nicht als krankhaft zu bezeichnen ist. 

3. Hinzu kommt, dass der Einfluss des Konsums von Alkohol und/oder Drogen auf die Tatbegehung in den Urteilsausführungen unklar bleibt. Dort ist die erforderliche Gesamtbetrachtung zu der sich aufdrängenden Frage unter­blieben, welche Bedeutung der Kombination der auffälligen Persönlichkeit des Angeklagten und seiner akuten Intoxikation bei 

Tatbegehung für seine Fähigkeit zukommen konnte, sein Verhalten entsprechend seiner Unrechts­einsicht zu steuern. Das Landgericht hat lediglich die Frage der „Ursache“ für die Gewalttaten des Angeklagten in den Blick genommen und dabei dem Sachverständigen folgend eine alleinige Kausalität seiner „Psychopathie“ postuliert. Von Relevanz wäre aber gewesen, ob denn die – vom Sachverständigen dargelegte – enthemmende Wirkung des Rauschmittelkonsums im Zusammenwirken mit der besonderen Persönlichkeits­ausprägung eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungs­fähigkeit zur Folge haben konnte. 

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