BGH, Urt. v. 17.10.2024 – 1 StR 285/ 24: Zur Notwehr von Polizeibeamten und zur Rechtmäßigkeit des Handelns von Hoheitsträgern
Sachverhalt (Rn. 3–8):
Der angeklagte Polizist sollte mit seinem Streifenpartner das Opfer in die Psychiatrie zurückführen. Das Opfer litt an einer akuten paranoiden Schizophrenie und widersetzte sich anhaltend. Daraufhin brachten der angeklagte Polizist und sein Streifenpartner ihn zu Boden, um ihn mit Handschließen zu fixieren. Als sich der Geschädigte in Bauchlage aufbäumte und versuchte, den Angeklagten in den unbekleideten Unterarm zu beißen, versetzte dieser ihm zwei Faustschläge seitlich gegen den Kopf.
Als das Opfer seinen rechten Arm zwanzig Sekunden später aus dem Haltegriff des Angeklagten lösen konnte, setzte der Angeklagte ihm zwei weitere Faustschläge gegen den Kopfbereich. Die Schläge waren geeignet, schmerzhafte, nicht jedoch lebensgefährliche Verletzungen bei dem Geschädigten hervorzurufen. Kurze Zeit später wurde der Geschädigte in das Universitätsklinikum transportiert, wo sein Tod festgestellt wurde. Es konnte weder geklärt werden, wann ein Herzstillstand eintrat, noch auf welcher Ursache der Tod beruhte. In der Einlassung vor Gericht behauptete der Angeklagte, dass er die letzten beiden Schläge ausgeführt hatte, da er eine Einwirkung des Geschädigten mit seinem rechten Arm oder mit einem aus seiner Tasche ergriffenen Gegenstand befürchtete.
Aus den Gründen:
Die ersten beiden vom Angeklagten gegen den Kopf des Geschädigten geführten Faustschläge waren gerechtfertigt. Eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung im Amt scheidet aus. (Rn.13)
Zur Notwehrlage:
Der Angeklagte befand sich in einer Notwehrlage.
Ein Rechtswidriger Angriff auf den angeklagten Polizisten liegt vor, da das Handeln der Polizisten selbst rechtmäßig war, sodass das Opfer nicht selbst in Notwehr gehandelt hat.
“Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestimmt sich die Rechtmäßigkeit – im Rahmen des § 32 Abs. 2 StGB wie auch bezüglich §§ 113, 114 StGB – des Handelns von staatlichen Hoheitsträgern bei der Ausübung von Hoheitsgewalt weder streng akzessorisch nach der materiellen Rechtmäßigkeit des dem Handeln zugrundeliegenden Rechtsgebiets (meist des materiellen Verwaltungsrechts) noch nach der Rechtmäßigkeit entsprechend dem maßgeblichen Vollstreckungsrecht. Die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns in einem strafrechtlichen Sinne hängt vielmehr lediglich davon ab, dass „die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Beamten“ gegeben sind, „er also örtlich und sachlich zuständig“ ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der Hoheitsträger sein – ihm gegebenenfalls eingeräumtes – Ermessen pflichtgemäß ausübt. Befindet sich allerdings der Hoheitsträger in einem schuldhaften Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung, handelt er willkürlich oder unter Missbrauch seines Amtes, so ist sein Handeln rechtswidrig.” (Rn. 15)
“Nach Maßgabe dessen ist im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit von hoheitlichem Handeln in den Blick zu nehmen, in welcher Lage sich (Polizei-)Vollzugsbeamte bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeit befinden. Diese müssen sich in der konkreten Situation in der Regel unter zeitlichem Druck auf die Ermittlung eines äußeren Sachverhalts beschränken, ohne die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns auf der Grundlage des materiellen Rechts oder des (Verwaltungs-)Vollstreckungsrechts bis in alle Einzelheiten klären zu können.” (Rn. 16)
Die Entschlusskraft der eingesetzten Vollzugsbeamten soll durch diese Auslegung gestärkt werden. (Rn. 16)
Zur Notwehrhandlung:
Die Notwehrhandlung war erforderlich. (Rn. 19)
“Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden; dabei kommt es maßgeblich auf den konkreten Ablauf von Angriff und Abwehr, auf die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und auf die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen an. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen.” (Rn. 20)
Der Angeklagte durfte sich mit den ersten beiden Faustschlägen verteidigen.
Das vorherige übliche polizeiliche Vorgehen war erfolglos. Es ist nicht ohne weiteres von einer beherrschbaren “Kampfeslage” auszugehen, da sich das Opfer wirksam und aggressiv wehrte. Soweit von einem höchst dynamischen Geschehen auszugehen ist, erscheint naheliegend, dass für den Angeklagten keine Gelegenheit zum Nachdenken über mildere Mittel bestand. (Rn. 21)
Zur Gebotenheit:
“Die Notwehrhandlung war auch geboten. Der Angeklagte war nicht auf Maßnahmen der Schutzwehr beschränkt.” (Rn. 23)
“Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere, sozialethisch begründete Umstände sein Notwehrrecht einschränken. Die Verteidigung ist dann nicht geboten, wenn von dem Angegriffenen aus Rechtsgründen die Hinnahme der Rechtsgutsverletzung oder eine eingeschränkte und risikoreichere Verteidigung zu verlangen ist, etwa, wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat.” (Rn.24)
“Der Angeklagte hatte [...] alle denkbaren Maßnahmen ergriffen, den Geschädigten unverletzt zum Klinikum zurück zu bringen [...]. Zumutbare Möglichkeiten, dem Bissversuch auszuweichen oder sich ebenso wirksam zurückhaltender zu verteidigen, bestanden nicht. [...] [Er ist als geschulter Polizeibeamter nicht] dazu gehalten gewesen, eine Verletzung seiner körperlichen Integrität durch einen Biss mit ungewissen Folgen hinzunehmen; eine solche Einschränkung allein aufgrund seiner beruflichen Stellung besteht nicht.” (Rn.25)