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BVerfG, Beschl. v. 09.04.2025 – 2 BvR 1974/22: Zur Bezifferbarkeit des Vermögensschadens bei der räuberischen Erpressung

Sachverhalt (Rn. 3 f.) 

R und der Geschädigte G hatten vereinbart, gemeinsam ein neues Tattoostudio zu eröffnen und zu betreiben. Vor der Eröffnung wurde R festgenommen, sodass G das Tattoostudio faktisch allein betrieb. R forderte G auf, sich aus dem Tattoostudio zurückzuziehen. G wollte seine Geschäfts­anteile aber nur aufgeben, wenn er den Namen und das Logo behalten dürfe. R suchte G auf und traktierte ihn unter Einsatz von diversen Gegenständen. Wie beabsichtigt, unter­schrieb G daraufhin die Erklärung unter dem Eindruck der Über­legenheit der Angreifer und der von ihnen zuvor angewendeten Gewalt. 

Aus den Gründen 

„Der Beschwerdeführer [(R)] wendet sich mit seiner Verfassungs­beschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung. Die Verfassungs­beschwerde betrifft die Frage, ob die Würdigung, der Geschädigte habe einen Vermögensnachteil erlitten, gegen das strafrechtliche Bestimmtheits­gebot nach Art. 103 Abs. 2 GG verstößt.“ (Rn. 1) Der Beschwerde wurde stattgegeben. (Rn. 21) 

Das Bestimmtheits­gebot des Art. 101 Abs. 2 GG schließt jede Rechts­anwendung aus, „die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt der gesetzlichen Sanktions­norm hinausgeht. (Rn. 24) […] [Die Strafgerichte sind] verpflichtet, die einzelnen Tatbestandsmerkmale, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht so zu definieren, dass die vom Gesetzgeber dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen – auch zum Schutz des Normadressaten – innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangs­läufig mit diesen mitverwirklicht werden. (Rn. 26) Im Falle des Nachteilsmerkmals des § 253 Abs. 1 StGB muss die Auslegung dabei den gesetzgeberischen Willen beachten, das Merkmal selbständig neben dem der Nötigung zu statuieren; sie darf dieses Tatbestandsmerkmal nicht mit dem abgenötigten Verhalten verschleifen, das heißt, es in diesem Merkmal aufgehen lassen. Deswegen und um das Vollendungs­erfordernis zu wahren, sind eigenständige Feststellungen zum Bestehen eines Nachteils geboten. Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen – etwa bei einem ohne Weiteres greifbaren Mindest­schaden – abgesehen, werden die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaft­lich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen müssen. Normative Gesichtspunkte können bei der Feststellung eines Nachteils durchaus eine Rolle spielen. Sie dürfen aber, soll der Charakter der Erpressung als Vermögensdelikt und Erfolgsdelikt bewahrt bleiben, wirtschaft­liche Über­legungen nicht überlagern oder verdrängen.“ (Rn. 27) 

„Geschütztes Rechts­gut der §§ 253, 255 StGB ist das Vermögen. Eine versuchte räuberische Erpressung läge deshalb nur vor, wenn der Tatentschluss des Beschwerdeführers darauf gerichtet gewesen wäre, dem Vermögen des Geschädigten einen Nachteil zuzufügen. Der Nachteil für das Vermögen im Sinne des § 253 StGB ist gleich­bedeutend mit dem Vermögensschaden beim Betrug. Ein Schuldspruch wegen versuchter räuberischer Erpressung durch das Revisionsgericht setzt somit voraus, dass eine den verfassungs­rechtlichen Anforderungen entsprechende Bezifferung und Darlegung eines Mindest­schadens entweder bereits erfolgt oder – in den Evidenzfällen, in denen sich eine nähere Darlegung erübrigt – sicher möglich ist.“ (Rn. 30) 

„Entsprechende Feststellungen lassen sich den angegriffenen Entscheidungen nicht entnehmen. (Rn. 31) Soweit der Geschädigte genötigt werden sollte, den Betrieb des Tattoostudios aufzugeben und einer Über­tragung des Betriebs auf den Mitangeklagten R. zuzustimmen, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, dass dadurch der wirtschaft­liche Gesamtwert des Vermögens des Geschädigten – nach dem für die Versuchsstrafbarkeit maßgeblichen Vorstellungs­bild des Beschwerdeführers – gemindert worden wäre. (Rn. 32) […] Auch hinreichende Feststellungen zum Vorstellungs­bild des Beschwerdeführers bezüglich etwaiger Erwerbs- und Gewinnaussichten, die nur ausnahmsweise als Vermögensbestandteil angesehen werden könnten, hat das Landgericht nicht getroffen. (Rn. 35) […] Schließlich ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen auch unter dem Gesichtspunkt des Entzuges bereits getätigter Investitionen ein von dem Beschwerdeführer zumindest für möglich gehaltener und billigend in Kauf genommener Vermögensschaden nicht zu erkennen.“ (Rn. 38) 

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