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BGH, Beschl. v. 17.09.2015 – 3 StR 11/15: Zum Schwei­gerecht des Angeklagten

Sachverhalt:

Die Angekl. hatten in der Hauptverhandlung zu dem Tatvorwurf, in der Silvesternacht 2012/2013 gemeinschaft­lich auf drei Männer eingeschlagen und eingetreten zu haben, keine Angaben gemacht. Auf Beweisanträge der Verteidiger der Angekl. hin, hat die Strafkammer die Eltern des Angekl. G. zu dessen angeblichem Aufenthalt im Elternhaus sowie einen Kellner und einen Gast zum angeblichen Aufenthalt der Angeklagten I. in einem Lokal angehört. Den Alibibehauptungen hat die Kammer keinen Glauben geschenkt und dies damit begründet: Es hätte „nichts näher gelegen“, die Alibizeugen bereits im Ermittlungs­verfahren, in der Hauptverhandlung oder nach Vernehmung der Opferzeugen zu benennen, anstatt sich erst nach einem ersten Schluss der Beweisaufnahme auf sie zu berufen.

 Der BGH sieht hierin einen Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz:

 „Diese Überlegung verstößt gegen den Grundsatz der Selbstbelastungs­freiheit des Angeklagten. Diesem kann der Zeitpunkt, zu dem er sich erstmals zur Sache einlässt, nicht zum Nachteil gereichen. Erst recht gilt dies für den Zeitpunkt eines vom Verteidiger gestellten Beweisantrages. (Rn. 4)

Der Grundsatz, dass niemand im Straf­verfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schwei­gerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. So steht es dem Angeklagten frei, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 136 I 2, § 243 V 1 StPO). Macht ein Angeklagter von seinem Schwei­gerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden. Der unbefangene Gebrauch dieses Schwei­gerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussage­verhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der anfänglichen Aussageverweigerung – und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte erstmals einlässt – nachteilige Schlüsse gezogen werden.“ (Rn. 5)

 Erst recht dürfe aus dem Zeitpunkt, zu dem ein Verteidiger einen Beweisantrag anbringt, nichts zum Nachteil des bis dahin schweigenden Angeklagten hergeleitet werden.

Der Verteidiger sei neben dem Angeklagten selbständig berechtigt, Beweisanträge zu stellen, auch gegen den offenen Widerspruch des Angeklagten. Der Antrag oder die hierzu abgegebene Begründung dürfen aber nicht als Einlassung des Angeklagten behandelt werden, es sei denn der Angeklagte erklärt das Vorbringen als eigene Einlassung.

 Im vorliegenden Fall haben sich die Angeklagten das Vorbringen jedoch nicht als Einlassung zu Eigen gemacht. Dass diese fehlerhafte Überlegung im Rahmen der Beweiswürdigung für die Überzeugung des Gerichts von der Unrichtigkeit der Alibibehauptung ursächlich war, kann nicht ausgeschlossen werden. Deshalb muss über den Tatvorwurf bezüglich aller Angeklagten erneut verhandelt und entschieden werden.

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