BGH, Beschl. v. 15.07.2016 – GSSt 1/ 16: Keine spezifische Belehrung über § 252 StPO
Leitsatz:
„Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs.1 StPO Gebrauch, so erfordern die Einführung des Inhalts einer früheren Aussage des Zeugen in die Hauptverhandlung durch Vernehmung des Richters, vor dem der Zeuge im Rahmen des die konkrete Tat betreffenden Ermittlungsverfahrens ausgesagt hat, und die Verwertung des dadurch gewonnenen Beweisergebnisses, dass der Richter den Zeugen gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt hat; einer weitergehenden Belehrung bedarf es nicht.“
Der 2. Senat (Vgl. Beschl. 24.02.2016 – 2 StR 656/
Als Vorfrage war zu klären, ob § 252 StPO es ausschließt, den Richter über die Aussage eines Zeugen zu vernehmen, den dieser Richter im Ermittlungsverfahren vernommen hat. Dies verneint der Große Senat. § 252 StPO enthalte „über seinen Wortlaut hinaus nicht nur ein Verlesungs-, sondern auch ein Verwertungsverbot. Dieses schließt in der Regel auch die Feststellung des Inhalts der früheren Aussage durch andere Beweismittel und damit jede Verwertung der bei einer früheren Vernehmung gemachten Aussage eines Zeugen aus, wenn dieser in der Hauptverhandlung nach § 52 StPO berechtigt das Zeugnis verweigert und nicht ausdrücklich die Verwertung seiner früheren Bekundungen gestattet. Deren Einführung durch Aussage einer früheren Vernehmungsperson ist danach ebenfalls grundsätzlich unzulässig. Von diesem Verbot sind allerdings solche Bekundungen ausgenommen, die ein Zeuge nach Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht im Bewusstsein der Bedeutung und Tragweite dieses Rechts vor einem Richter gemacht hat. Sie dürfen durch Vernehmung des Richters in die Hauptverhandlung eingeführt und bei der Urteilsfindung verwertet werden.“ (Rn. 32)
„Die unterschiedliche Behandlung von richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen hat der BGH in älteren Entscheidungen damit begründet, dass der Richter – anders als nach damaliger Rechtslage ein Polizeibeamter oder Staatsanwalt – verpflichtet sei, Zeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen. Seit Inkrafttreten des § 163a Abs. 5 StPO aF (§ 163 Abs. 3 StPO nF), der (…) auch für Vernehmungen durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft eine Belehrung der Zeugen über ihr Zeugnisverweigerungsrecht vorschreibt, sieht die Rechtsprechung demgegenüber das tragende Argument für die unterschiedliche Behandlung darin, dass das Gesetz – wie § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO zu entnehmen sei – richterlichen Vernehmungen allgemein höheres Vertrauen entgegenbringe.“ (Rn. 33) „Gemäß § 168c Abs. 2 StPO ist bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet; hieraus resultieren auch entsprechende Fragerechte. Eine entsprechende Regelung für nichtrichterliche Vernehmungen besteht nicht. Zudem ist nur ein Richter befugt, eine eidliche Vernehmung vorzunehmen (§ 161a Abs.1 Satz 3 StPO).“ (Rn. 42)
„Voraussetzung für eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verwertungsverbot des § 252 StPO ist eine ordnungsgemäße Belehrung über das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts und die sich daraus ergebende Möglichkeit für den Zeugen, aus diesem Grund keine Angaben zur Sache zu machen. Nicht erforderlich ist es hingegen (…), den aussageverweigerungsberechtigten Zeugen über die Folgen eines Verzichts auf das Auskunftsverweigerungsrecht, insbesondere über die weitere Verwertbarkeit auch im Falle einer späteren Zeugnisverweigerung in der Hauptverhandlung, „qualifiziert“ zu belehren.“ (Rn. 34)
Ein Verwertungsverbot aus der fehlenden erweiterten Belehrung sei dem Wortlaut des § 52 StPO nicht zu entnehmen. „Nach diesem ist es vielmehr lediglich untersagt, die frühere Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung zu verlesen, mithin sie durch Verlesung des hierüber erstellten Protokolls zu Beweiszwecken in die Hauptverhandlung einzuführen.“ (Rn. 38) „Auch die Beachtung der Gesetzessystematik führt zu demselben Ergebnis. (…) § 252 StPO ist in die Vorschriften zum Urkundenbeweis (§§ 249 ff. StPO) eingestellt. (…) Der passende Standort für ein Verwertungsverbot läge eher bei den §§ 52 ff. StPO, welche die inhaltlichen Regelungen zu den Zeugnisverweigerungsrechten enthalten.“ (Rn. 39, 40) „§ 52 StPO trägt der besonderen Lage eines Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, seinen Angehörigen zu belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen. Die Norm soll folglich in erster Linie den Zeugen vor Konflikten schützen, die aus den Besonderheiten der Vernehmungssituation entstehen, insbesondere einerseits durch die Wahrheitspflicht bei der Zeugenvernehmung und andererseits durch die sozialen Pflichten, die aus der persönlichen Bindung gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten erwachsen. Dieser Gesichtspunkt wird allerdings bei der Einvernahme eines Richters über den Inhalt einer früher vor ihm getätigten Zeugenaussage weitaus weniger berührt, als in den Fällen, in denen der Zeuge selbst aussagen soll.“ Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift enthalte jedoch keine deutlichen Hinweise darauf, dass ein allumfassender Schutz der Aussagefreiheit des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen sichergestellt werden sollte.
Es erscheine auch nicht sachgerecht, den vorliegenden Fall anders als den des § 52 Abs. 3 Satz 2 StPO zu beurteilen. Die Vorschrift ermöglicht es dem Zeugen, einen Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht auch noch während der Vernehmung zu widerrufen. Die Vernehmung darf in diesem Fall nicht durch- bzw. fortgeführt werden. Was der Zeuge vor dem Widerruf ausgesagt hat, kann allerdings verwertet werden.
Wegen der erforderlichen Belehrung sei dem Zeugen auch bewusst, dass die Angaben vor einem Richter nicht ohne Weiteres wieder beseitigt werden könnten. (Rn. 63)
Gegen die Notwendigkeit einer im Sinne des vorlegenden Senats erweiterten Belehrung streitet auch der Vergleich mit der Rechtslage bei einem Beschuldigten. Lasse dieser sich trotz Belehrung über sein Aussageverweigerungsrecht „zur Sache ein, können seine Angaben später jedenfalls durch Zeugnis der Vernehmungsperson in das weitere Verfahren eingeführt und verwertet werden, auch wenn er sich in der Zwischenzeit entschlossen hat, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen.“ (Rn. 58)
Schließlich habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine besondere Belehrung des Zeugen zur Wahrung eines insgesamt fairen Verfahrens nicht für geboten erachtet. (Rn. 62)