BGH, Beschl. v. 24.02.2016 – 2 StR 656/ 1: Verwertbarkeit der Zeugenaussage aus der ersten richterlichen Vernehmung bei Zeugnisverweigerung in der Hauptverhandlung
Das LG hatte den Angeklagten wegen Mordes verurteilt und sich dabei maßgeblich auf die Angaben der Tochter gestützt, die diese im Ermittlungsverfahren gegenüber einem in der Hauptverhandlung vernommenen Richter gemacht hatte. Dieser habe die Zeugin zwar über ihr Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO belehrt, nicht aber darüber, dass bei etwaiger späterer Zeugnisverweigerung ihre in der richterlichen Vernehmung gemachten Angaben verwertet werden könnten. Die Zeugin hatte in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch gemacht und sich mit einer Verwertung ihrer Angaben im Ermittlungsverfahren nicht einverstanden erklärt.
Nach Auffassung des 2. Senats müsste dies zu einem Verwertungsverbot nach § 252 StPO führen.
Er führt grundsätzlich zum Verlesungsverbot nach § 252 StPO aus:
„§ 252 StPO schließt es aus, die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen zu verlesen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht Gebrauch macht, das Zeugnis zu verweigern. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs enthält die Vorschrift über den Wortlaut hinaus aber nicht nur ein Verlesungs-, sondern ein umfassendes Verwertungsverbot. […] Auch die Einführung durch Aussage einer früheren Vernehmungsperson ist danach grundsätzlich unzulässig.
Von diesem Verbot sind nach der bisherigen Rechtsprechung aber solche Bekundungen ausgenommen, die ein Zeuge […] vor einem Richter gemacht hat. Sie dürfen durch Vernehmung des Richters in die Hauptverhandlung eingeführt und bei der Urteilsfindung verwertet werden.“
§§ 52, 252 StPO sollen der Konfliktsituation zwischen Wahrheitspflicht und Näheverhältnis Rechnung tragen und zudem sichern, dass eine einmal gemachte Aussage bis zur Hauptverhandlung wieder folgenlos rückgängig gemacht werden kann. Dies gelte auch für richterliche Vernehmungen.
Nun weicht der 2. Senat von seiner bisherigen, eine qualifizierte Belehrung ablehnenden Rechtsprechung ab.
Die erste Aussage soll nur dann verwertbar sein, wenn der Zeuge in der im Ermittlungsverfahren durchgeführten richterlichen Vernehmung ausdrücklich auch darüber belehrt worden ist, dass eine jetzt gemachte Aussage auch dann verwertbar bleibt, wenn er in einer späteren Hauptverhandlung vom Recht der Aussageverweigerung Gebrauch macht. Nach Ansicht des Senats ist also eine „qualifizierte“ Belehrung erforderlich.
„Das Gewicht der von §§ 52, 252 StPO geschützten Interessen gebietet es (…), einen aussagebereiten Zeugen auch darüber zu belehren, dass die Aussage nicht durch spätere Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts zurückgenommen werden kann. […] Erst diese Belehrung bietet die sichere Grundlage für die Entscheidung des Zeugen und schärft seinen Blick auf die mögliche bestehende Konfliktsituation, die sonst oft erst unmittelbar vor und während der Hauptverhandlung erkenn- und spürbar wird.“
Zwar fehle es insoweit an einer gesetzlichen Grundlage, es wäre jedoch „widersprüchlich, ungeschriebene Ausnahmen von einem Verwertungsverbot [zugunsten der ermittlungsrichterlichen Vernehmung] zuzulassen, für deren rechtsstaatliche Begrenzung aber eine gesetzliche Grundlage zu verlangen.
Auch das Argument, eine qualifizierte Belehrung könne eine höhere Anzahl von Zeugen zur Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts veranlassen, als dies bei einer nur „einfachen“ Belehrung der Fall ist, und daher der „Effektivität der Strafverfolgung“ entgegenstehen, könne nicht überzeugen. Denn die qualifizierte Belehrung gebe dem Zeugen kein Recht, welches er nicht schon hat. Sie erweitere nur die Kenntnis der Zeugen vom Umfang ihrer prozessualen Rechte.
Die fehlende „qualifizierte“ Belehrung dürfe aber nur dann zu einem Beweisverwertungsverbot führen, wenn dem Zeugen die Folgen seiner Aussagebereitschaft tatsächlich nicht bekannt waren.
Der Senat geht darüber hinaus davon aus, dass schon die Verwertung der bei einem Richter getätigten Aussage von aussageverweigerungsberechtigten Zeugen trotz Widerspruchs in der Hauptverhandlung entgegen dem Wortlaut des § 252 StPO unzulässig sei und legt diese Grundsatzfrage dem Großen Senat zur Entscheidung vor.
Anmerkung:
Die unterschiedliche Behandlung von richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen im Rahmen des § 252 StPO wurde nach der alten Rechtslage damit begründet, dass nur der Richter – anders als ein Polizeibeamter oder Staatsanwalt – verpflichtet war, Zeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen. Nach heutiger Rechtslage (§ 163 Abs. 3 StPO) gilt die Belehrungspflicht nun aber auch für Polizei und Staatsanwaltschaft.
Das tragende Argument für die unterschiedliche Behandlung der Verwertbarkeit wird heute darin gesehen, dass das Gesetz – wie § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO zu entnehmen sei – richterlichen Vernehmungen allgemein höheres Vertrauen entgegenbringe und für den Zeugen die „erhöhte Bedeutung“ der richterlichen Vernehmung erkennbar sei.
Die Frage der hier vom 2. Senat angenommenen qualifizierten Belehrung eines Zeugen ist streng von der weitaus bekannteren Problematik der „qualifizierten Belehrung“ des Beschuldigten zu unterscheiden. Hierfür ist allgemein anerkannt, dass der bei der ersten Vernehmung nicht (ausreichend) belehrte Beschuldigte vor der weiteren Vernehmung zusätzlich („qualifiziert“) darüber zu belehren ist, dass die erste Aussage unverwertbar ist.