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BGH, Urt. v. 6.10.2016 – 2 StR 46/15: Beweisverwertungs­verbot bei rechts­widriger Durchsuchung

Leitsätze:

 1. Die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge, mit der ein Beweisverwertungs­verbot wegen Fehlern bei einer Durchsuchung zur Sicherstellung von Sachbeweisen geltend gemacht wird, setzt keinen auf den Zeitpunkt des § 257 Abs. 1 StPO befristeten Widerspruch des verteidigten Angeklagten gegen die Verwertung voraus. Es bedarf auch keiner vorgreiflichen Anrufung des Gerichts gemäß § 238 Abs. 2 StPO.

 2. Ist beim Ermittlungs­richter ein Durchsuchungs­beschluss beantragt, ist auch dann, wenn dieser sich außerstande sieht, die Anordnung ohne Vorlage der Akte zu erlassen, für eine staats­anwaltschaft­liche Prüfung des Vorliegens von Gefahr im Verzug regelmäßig kein Raum mehr, es sei denn, es liegen neue Umstände vor, die sich nicht aus dem vorangegangenen Prozess der Prüfung und Entscheidung über den ursprünglichen Antrag auf Durchsuchung ergeben.

 3. Der Hypothese eines möglichen rechtmäßigen Ermittlungs­verlaufs kommt bei grober Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Richtervorbehalts im Rahmen der Abwägungs­entscheidung über ein Beweisverwertungs­verbot keine Bedeutung zu.

 Sachverhalt:

 Die Polizei erhielt einen Hinweis, dass in der Wohnung des Angeklagten, der sich in Untersuchungs­haft befand, hinter der Küchenleiste noch ein Koffer mit wichtigen Dokumenten aufbewahrt sei. Die Staats­anwältin beantragte beim zuständigen Ermittlungs­richter einen Durchsuchungs­beschluss. Dieser lehnte den Erlass ohne Vorlage der Akte ab. Die Staats­anwältin nahm „Gefahr im Verzug“ an und ordnete das gezielte Suchen des Koffers an. Tatsächlich wurde in der Wohnung des Angeklagten ein Koffer am angegebenen Ort aufgefunden, sichergestellt und sein Inhalt gesichtet.

 Der BGH nimmt an, dass das LG die Beweise nicht hätte verwerten dürfen, da sie bei einer Durchsuchung gewonnen worden waren, die unter Verstoß gegen den Richtervorbehalt (§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO) durchgeführt wurden und daher rechts­widrig waren.

Nach Ansicht des BGH, lag keine Gefahr im Verzug vor. „Gefahr im Verzug ist gegeben, wenn die vorherige Einholung der richterlichen Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährdet hätte. (…) Dabei darf Gefahr im Verzug nicht vorschnell angenommen werden, damit die bei Wohnungs­durchsuchungen auch aus Art. 13 Abs. 2 GG fließende Regelzuständigkeit des Richters nicht unterlaufen wird. Regelmäßig ist (…) der Versuch zu unternehmen, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Haben die Ermittlungs­behörden den zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichter mit der Sache befasst, ist für ihre Eil­kompetenz kein Raum mehr. Sie kann (nur) durch nachträglich eintretende oder neu bekannt werdende tatsächliche Umstände, die sich nicht aus dem Prozess der Prüfung des Durchsuchungs­antrags und der Entscheidung darüber ergeben, neu begründet werden.“ (Rn. 20)

 Dadurch dass die ermittelnde Staats­anwältin den Eilrichter erreicht und bei ihm den Erlass einer Durchsuchungs­anordnung beantragt habe, habe sie zu erkennen gegeben, dass zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen einer staats­anwaltschaft­lichen Eilanordnung nicht gegeben waren. Mit der Befassung des Eilrichters aber endet grundsätzlich die Eilzuständigkeit der Ermittlungs­behörden (…). Auch soweit während des durch den Richter in Anspruch genommenen Entscheidungs­zeitraums die Gefahr eines Beweismittelverlusts eintrete oder der Richter trotz Gefahr eines Beweismittelverlusts noch nicht entschieden hat, lebe die Eil­kompetenz der Ermittlungs­behörden nicht wieder auf. (Rn. 21)

 Fraglich sei aber, ob der Verteidiger des Angeklagten der Beweisverwertung hätte widersprechen müssen. Diese sog. Widerspruchslösung, die für unselbständige Beweisverwertungs­verbote gefordert wird, ist für die Fälle einer Verletzung der §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO entwickelt worden. Danach besteht kein Verwertungs­verbot für eine Aussage des Beschuldigten, die unter Verletzung des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO zustande gekommen ist, wenn der Verteidiger der Verwertung nicht widerspricht. (Rn. 14)

 Bislang nicht entschieden wurde, ob diese Widerspruchslösung auch für unselbständige Beweisverwertungs­verbote wegen Fehlern bei der Durchsuchung oder Beschlagnahme gilt. „Dagegen spricht, dass eine Dispositions­macht der Verteidigung über den auf diese Weise erfassten Sachbeweis, anders als bezüglich der Äußerungen des Beschuldigten, die durch verfahrensfehlerhafte Vernehmungen oder durch Gesprächsüberwachungen im Vor­verfahren erlangt wurden, grundsätzlich nicht besteht. Seine früheren Angaben kann der Angeklagte aus seiner Erinnerung erläutern und erklären, er kann sie durch eine Sacheinlassung ersetzen oder dementieren (…). Dann aber erscheint es nachvollziehbar, ihm ferner die Disposition über die Verwertbarkeit seiner früheren Angaben zu überlassen. Bei der staatlichen Erfassung von Sachbeweisen (Urkunden oder Augenscheinsobjekten) bestehen keine vergleichbaren Dispositions­möglichkeiten. (…) Die Art und Weise der Erlangung solcher Sachbeweise durch die Ermittlungs­behörden, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hat, ist deshalb vom Gericht von Amts wegen aufzuklären, soweit Verfahrensfehler bei diesem Vorgang in Betracht kommen. Auf einen Widerspruch gegen die Beweisverwertung kommt es dafür nicht an. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich – wie hier – auch ohne besonderen Hinweis der Verteidigung konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Ermittlungs­maßnahme nicht den gesetzlichen Eingriffs­voraussetzungen entspricht. Versäumnisse der Verteidigung dürfen insoweit nicht dazu führen, dass an sich rechts­widrig erlangtes Beweismaterial ohne weiteres zur Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung des Angeklagten werden kann.“ (Rn. 15)

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