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BGH, Urt. v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17: Verwertungs­verbot aufgrund Verletzung der Aussagefreiheit

Leitsatz: Die Verletzung der Aussagefreiheit kann auch außerhalb von Vernehmungen nach §§ 136, 136a StPO zu einem Beweisverwertungs­verbot führen.

Sachverhalt:

Die Angekl. R und ihre Mitangekl. Tochter M legten am Tag der Zwangs­räumung einen Brand in einer von ihnen gemieteten Doppelhaushälfte. Beide hatten zuvor 10 Tabletten eines Antidepressivums genommen und blieben nach Brandlegung im Haus.

R wurde noch am Tatort durch den Polizeibeamten Ra. über ihre Rechte nach §§ 136, 163a StPO belehrt. Sie äußerte daraufhin, wie auch M, zur Sache nicht aussagen zu wollen. In der Folge wurden R und M in unterschiedlichen Polizeifahrzeugen ins Krankenhaus verbracht. Die Kriminalbeamtin K begleitete R. Auf dem Weg zum Auto fragte R die K ob sie Ärztin sei, was diese verneinte und auf ihren Polizeibeamtenstatus hinwies. Im Krankenhaus wartete K mit R auf den Arzt D, wobei sie das Gespräch mit R in Kenntnis dessen fortführte, dass sich diese nicht zur Sache äußern wollte. K begleitete R sodann ins Behandlungs­zimmer. Vor Beginn der Untersuchung fragte K, ob sie hausgehen solle, erhielt jedoch keine Antwort und blieb. R gab gegenüber D u.a. an, sie hätten „Benzin ausgeschüttet und das ausgeschüttete Benzin angezündet, überall im Erdgeschoss“. K verließ daraufhin kurz den Raum, um sich bei ihren Kollegen zu vergewissern, dass R bereits belehrt worden sei, und ging dann zurück zu R. Danach begleitete K die R auf die Intensivstation. Auch dort kam es zu weiteren Gesprächen, nachdem R die K mehrfach an ihr Bett kommen ließ, um in Erfahrung zu bringen, wie es M gehe. Dabei äußerte sie u.a. wörtlich, dass sie einfach „nicht mehr konnten“ und „wir haben einfach alles angezündet“. Am nächsten Morgen transportierten die Beamten S und F die R zum Amtsgericht, wobei sie erneut belehrt wurde. Nach der Belehr­ung führte F ein „Gespräch“, in dem sich R dahingehend einließ, dass „alles zuviel gewesen sei“.

Der Verwertung der Angaben – nach der Berufung auf das Schwei­gerecht – haben beide Angekl. in der Hauptverhandlung widersprochen. Trotz des Widerspruchs hat die Strafkammer ihre Überzeugung von der (Mit-)Täterschaft von R und M insbesondere auf die Aussagen von K und F gestützt. Die Angaben gegenüber Ra. am Tatort hat sie nicht verwertet. Hinsichtlich der Verwertung der Angaben im Behandlungs­zimmer hatte die Strafkammer keine Bedenken, da R bewusst gewesen sei, dass K den Untersuchungs­raum nicht verlassen habe. Die Angaben am Krankenbett hält die Strafkammer für verwertbare freiwillige Spontanäußerungen außerhalb einer Vernehmungs­situation, die Angaben gegenüber F seien nach erneuter Belehr­ung eigen­verantwortlich und aus freiem Willen erfolgt.

Aus den Gründen:

Die Verfahrensrüge hat Erfolg, weil die verfassungs­rechtlich garantierte Selbstbelastungs­freiheit der R verletzt wurde und dies zu einem Beweisverwertungs­verbot führt. „Es ist allerdings fraglich, ob das Gesamtgeschehen um die ärztliche Untersuchung der R als „Vernehmung“ im Sinne der §§ 136, 136a StPO anzusehen ist. Denn eine Vernehmung liegt nur dann vor, wenn der Vernehmende dem Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihm Auskunft verlangt (…). Dies mag hier, insbesondere im Blick auf die ärztliche Untersuchung, zweifelhaft sein.“ (Rn. 18) Letztlich sei die Verfahrensrüge daher als „Rüge der Verletzung der Selbstbelastungs­freiheit anzusehen, weil R im Kern beanstandet, dass sie ihre Aussagefreiheit faktisch nicht wahrnehmen konnte.“ (Rn. 20)

Die Rüge ist zulässig erhoben und außerdem begründet. „Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechts­staatlichen Grundhaltung (…). Der Grundsatz der Selbstbelastungs­freiheit ist im Rechts­staats­prinzip verankert und hat Verfassungs­rang (…). Er umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungs­freiheit innerhalb des Straf­verfahrens (…). Dazu gehört, dass im Rahmen des Straf­verfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen (…).“ (Rn. 23)

R konnte hier eine solche eigen­verantwortliche Entscheidung frei von Zwang nicht treffen. „Dabei ist entscheidend, dass sich R nach der ersten Belehr­ung im un­unterbrochenen polizeilichen Gewahrsam befand, in dem zu keinem Zeitpunkt auf ihr Recht zu Schweigen Rücksicht genommen wurde. Letztlich war sie auf diese Weise einer dauerhaften Befragung ausgesetzt.“ (Rn. 25) Sowohl während des Transports zum Arzt, als auch im Wartezimmer lenkte K immer wieder das Gespräch auf die Tat. R hatte zuvor ausdrücklich von ihrem Schwei­gerecht Gebrauch gemacht. „Schon [die] prekäre gesundheitliche Verfassung der dezidiert nicht aussagebereiten R verbot weitere Fragen. Dies gilt umso mehr als R – wie sich aus ihrer Frage „sind Sie Ärztin“ ergibt – sie gar nicht als Kriminalbeamtin wahrgenommen hat.“ (Rn. 25)

Weiterhin beeinträchtigten die Gesamtumstände der Untersuchung die 75-jährige, dringend behandlungs­bedürftige R in ihrer Aussagefreiheit. „Um einen korrekten ärztlichen Befund zu erhalten, war R gezwungen, möglichst genaue Angaben zur Brandentstehung zu machen, auch wenn dies mit einer Selbstbelastung einherging. Diese Zwangs­situation hat K mit  ihrer Anwesenheit bewusst ausgenutzt, um die entsprechenden Er­kenntnisse zu erheben, gerade weil sie genau wusste, dass R erklärt hatte, keine Angaben gegenüber den Ermittlungs­behörden machen zu wollen.“ (Rn. 26) K hätte sicherstellen müssen, dass ihre Frage, ob sie hinausgehen solle, gehört wurde. „Danach kann es dahinstehen, ob das Arzt-Patienten-Gespräch (…) nicht ohnehin einem absoluten Verwertungs­verbot wegen einer Verletzung des Kern­bereichs­schutzes unterliegt (…).Ist der Kern­bereich betroffen, sind Ermittlungs­maßnahmen unzulässig (…).“ (Rn. 29)

„In Bezug auf die der ärztlichen Untersuchung nachfolgenden Gespräche der K am Krankenbett, bestehen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken gegen deren Verwertbarkeit, da R selbst die K hat rufen lassen, um von ihr Näheres zum Gesundheitszustand ihrer Tochter zu erfahren, und dann von sich aus einige Details zur Brandlegung erzählte, so dass insoweit ihr Schwei­gerecht von den Ermittlungs­behörden respektiert wurde.“ (Rn. 30)

Offen bleiben kann, „ob die Belehr­ung durch F am darauffolgenden Tag ausreichend war, oder er angesichts der unverwertbaren Er­kenntnisse anlässlich der ärztlichen Untersuchung nicht eine qualifizierte Belehr­ung hätte erteilen müssen, durch welche R darüber in Kenntnis gesetzt worden wäre, dass die von ihr gegenüber D gemachten Äußerungen grundsätzlich unverwertbar sind. Insoweit kann der Senat nicht beurteilen, ob sie auch dann die fraglichen Mitteilungen gegenüber F getätigt hätte, wenn ihr die Unverwertbarkeit der gegenüber [D] gemachten Angaben bewusst gewesen wären.“ (Rn. 31)

„Die Revision der M hat im selben Umfang Erfolg. (…) Wegen seiner Absolutheit entfaltet dieses Beweisverwertungs­verbot seine Wirkung auch auf die von den Eingriffen in die Aussagefreiheit der R nicht unmittelbar betroffene M. Dies gilt hier in besonderem Maße, weil R gegenüber ihrer Tochter zudem ein Zeugnisverweigerungs­recht gehabt hätte (…), in dessen Ausübung mittelbar gleichfalls eingegriffen wurde.“ (Rn. 33)

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