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BGH, Urt. v. 31.01.2024 – 5 StR 196/23: Zur Beweiswürdigung

Sachverhalt (Rn. 3 f.): 

Der Angeklagte hatte am 30. Dezember 2020 ab 16 Uhr mindestens vier Mischgetränke aus Cola und 4 cl Wodka konsumiert, bevor er einen Bekannten in dessen Wohnung aufsuchen wollte, um dort gemeinsam weiter Alkohol zu trinken. Auf dem Weg dorthin rauchte der Angeklagte zwei bis drei Züge Marihuana. In der Wohnung seines Bekannten trank er etwa eine viertel Flasche Wodka mit Cola gemischt und rauchte zusätzlich drei Züge Kokainbase oder Crack aus einer Pfeife. 

Nach einer kleineren Auseinandersetzung mit einem Gast des Bekannten machte sich der Angeklagte gegen Mitternacht auf den Heimweg. Zunächst fuhr er mit der S-Bahn und legte den restlichen Weg zu Fuß zurück. Dabei fühlte er sich „völlig breit“, schwindelig, müde und erschöpft, ein Zustand, den er aus früherem Alkohol- und Drogenkonsum nicht kannte. Während er hinter dem ihm unbekannten Zeugen L. herging, wankte er und gab unbestimmte Laute und Geräusche von sich. 

Vor seinem Hauseingang, wo er gleichzeitig mit dem Zeugen L. gegen 00.15 Uhr eintraf, standen die Zeugen Ha., B. und H. Der Angeklagte versuchte ohne ersichtlichen Grund dem Zeugen H., dem er dabei direkt ins Gesicht blickte, mit der ausgefahrenen Klinge eines Cuttermessers in Richtung des Halses zu stechen. H. konnte ausweichen, sodass ihm nur eine Schnittverletzung am Kinn zugefügt wurde. Den Zeugen gelang es daraufhin, den Angeklagten zu überwältigen und bis zum Eintreffen der Polizei zu fixieren.  

Aus den Gründen:  

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung wegen Schuldun­fähigkeit freigesprochen, da nicht auszuschließen sei, dass seine Steuerungs­fähigkeit bei der Tatbegehung infolge einer durch Mischintoxikation hervorgerufenen paranoiden Situations­verkennung gemäß § 20 StGB aufgehoben war. (Rn. 5) 

Die Revision der Staats­anwaltschaft hat Erfolg.  

Eine nicht ausschließbare Aufhebung der Steuerungs­fähigkeit ist nicht rechts­fehlerfrei dargelegt. (Rn. 6 f.) 

  1. Das Landgericht stützt sich im Anschluss an den Sachverständigen maßgeblich auf das Vorliegen einer „nicht ganz unerheblichen“ Mischintoxikation. Diese hat es allerdings schon nicht trag­fähig beweiswürdigend belegt. Der Angeklagte machte weitgehende Erinnerungs­lücken auch in Bezug auf das Tatgeschehen geltend, konnte sich jedoch an den Crackkonsum erinnern. Es erschließt sich nicht, wieso ausgerechnet bezogen auf den Crackkonsum eine Erinnerungs­insel verblieben sein soll, zumal der Crackkonsum auch nicht durch sonstige Beweismittel belegt ist. Insbesondere ist das Rauchen von Crack nicht mit dem vom Angeklagten mitgeteilten üblichen Konsum­verhalten in Einklang zu bringen. (Rn. 8 f.) 

  2. Das Landgericht hätte sich zudem näher mit den Trinkmengen des Angeklagten und den Aus­wirkungen auf sein Leistungs­vermögen, gerade in Kombination mit den Betäubungs­mitteln, auseinandersetzen müssen. Die erörterten Feststellungen sind für sich genommen nicht so aussagekräftig, dass von weiteren Erörterungen hätte abgesehen werden dürfen. Vielmehr bedurfte es einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Vorgeschichte der Tat, des Verhaltens des Angeklagten vor, während und nach der Tat und seiner Alkoholgewöhnung zur Tatzeit. (Rn. 10) 

  3. Losgelöst davon hat sich das Gericht auf die Wiedergabe der Feststellungen und Annahmen des Sachverständigen beschränkt. Damit ist es seiner Pflicht, eigen­verantwortlich über die Frage der Schuld­fähigkeit zu entscheiden, nicht gerecht geworden. Denn bei der Prüfung des Vorliegens eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB bei gesichertem psychiatrischem Befund und der auch normativ geprägten Beurteilung der Erheblichkeit der Einschränkung von Einsichts- oder Steuerungs­fähigkeit zur Tatzeit handelt es sich um Rechts­fragen. Der Tatrichter hat die Angaben des Sachverständigen daher zu überprüfen und rechtlich zu bewerten sowie in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen. Gesteigerte Darlegungs­anforderungen gelten, wenn die sachverständigen Äußerungen zur Steuerungs­fähigkeit nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind, Lücken aufweisen oder im Widerspruch zu sonstigen Feststellungen und Bewertungen der Strafkammer stehen wie im vorliegenden Fall. (Rn. 11–15) 

  4. Das Landgericht hat zudem vorschnell den Zweifelsgrundsatz auf die Frage des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des § 20 StGB angewandt, in dem es sich der Annahme des Sachverständigen angeschlossen hat, eine Aufhebung der Schuld­fähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen zu können. Dies enthebt das Tatgericht aber nicht von der eigenständigen Prüfung, welche Gründe für und gegen das Vorliegen einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung des Angeklagten zur Tatzeit sprechen. Erst wenn dem Tatgericht im Anschluss daran nicht behebbare Zweifel verbleiben, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustands beziehen, ist die Anwendung des Zweifelssatzes gerechtfertigt. (Rn. 16) 

Das Urteil leidet unter einem weiteren Rechts­fehler.  

Das Landgericht hat seine Kognitions­pflicht verletzt, indem es trotz Annahme eines Rauschzustands und einer nicht ausschließbare rauschbedingten Schuldun­fähigkeit eine Strafbarkeit nach § 323a StGB nicht geprüft hat, obwohl der festgestellte Sachverhalt hierfür Anlass gegeben hat und die Tat von dem Lebens­sachverhalt, wie er sich aus der zugelassenen Anklage ergibt, umfasst ist. Insoweit bedarf es keiner konkreten Vorhersehbarkeit der Rauschtat. Der Gesetzgeber hat das Sich-in-einen-Rausch-Versetzen in § 323a StGB im Hinblick auf die allgemeine Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des schwer Berauschten als ein selbständiges, rechtlich fassbares sanktions­würdiges Unrecht bewertet. Er hat die Strafbarkeit lediglich davon abhängig gemacht, ob oder in welchem Umfang sich die für die Rechts­güter Dritter oder die Allgemeinheit gesteigerte Gefahr, die von einem Berauschten ausgeht, tatsächlich in einer konkreten rechts­widrigen Tat niedergeschlagen hat. (Rn. 17 f.) 

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