Leitsatz: 2. Die Stellung als behandelnder Substitutionsarzt eines opiatabhängigen Patienten als solche begründet keine Handlungsherrschaft des Arztes bei missbräuchlicher Verwendung des verschriebenen Substitutionsmedikaments durch den Patienten. Ein Arzt kann in solchen Konstellationen lediglich als Täter eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts strafbar sein, wenn die selbstschädigende oder selbstgefährdende Handlung des Patienten nicht eigenverantwortlich erfolgte.
Sachverhalt: Der angeklagte Arzt hatte einem langjährig drogenabhängigen Patienten Methadon zur eigenverantwortlichen Einnahme mit nach Hause gegeben (Take-home-Verfahren), obwohl dieser aufgrund fortgesetzten Beikonsums verbotener Betäubungsmittel unzuverlässig war. Der Patient injizierte sich eine Überdosis Methadon und verstarb daran.
Das LG sprach den Angekl. vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei; der BGH bestätigte diese Entscheidung aus den folgenden Gründen:
Eine „eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung [unterfällt] grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit kein strafbarer Vorgang ist (…).
Diese Grundsätze gelten sowohl für die vorsätzliche als auch die fahrlässige Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder Selbstverletzung (einschließlich der Selbsttötung). Maßgebend ist damit die Eigen- bzw. Freiverantwortlichkeit des Entschlusses des Rechtsgutsinhabers, sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit selbst zu gefährden oder zu verletzen.
Der BGH stellt zur Abgrenzung zwischen tatbestandlicher Begehung und tatbestandloser Teilnahme an der Selbstgefährdung darauf ab, ob „es an der Eigenverantwortlichkeit des sich selbst gefährdenden oder verletzenden Rechtsgutsinhabers fehlt und deshalb eine zur Täterschaft des sich Beteiligenden führende – normativ zu bestimmende – Handlungsherrschaft gegeben ist. Dies ist dann der Fall, wenn der sich beteiligende Dritte kraft überlegenen Fachwissens das Risiko besser erfasst als der sich selbst Gefährdende oder Verletzende (…). Ein solches überlegenes Wissen kommt vor allem bei einem Irrtum des sich Gefährdenden in Betracht (…); wobei es sich lediglich um für die Entscheidung zur Gefährdung oder Verletzung des Rechtsguts bedeutsame Irrtümer handeln kann. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof die Eigenverantwortlichkeit ausgeschlossen, wenn der sich Gefährdende oder Verletzende infolge einer Intoxikation bzw. Intoxikationspsychose nicht (mehr) zu einer hinreichenden Risikobeurteilung und -abwägung in der Lage ist (…).“
Dieses überlegene Sachwissen hat der Senat jedoch hier bei einem Patienten, der seit mehreren Jahren die ihm für die orale Einnahme verschriebenen Substitutionsmittel intravenös einnahm, in dieser Einnahmeform als erfahren war und die Risiken mithin kannte, verneint. Maßgebend sei hier „ob der sich selbst Gefährdende bzw. Verletzende das rechtsgutsbezogene Risiko seines Verhaltens zutreffend eingeschätzt hat. Dafür bedarf es – jedenfalls bei den sonstigen festgestellten Umständen des Einzelfalls – nicht der exakten medizinischen Wirkzusammenhänge zwischen der Einnahme eines bei Überdosierung als lebensgefährlich bekannten Mittels und den Auswirkungen auf das eigene Leben und die eigene körperliche Unversehrtheit. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof auch bereits entschieden, dass es der Eigenverantwortlichkeit nicht entgegensteht, wenn die sich selbst gefährdende Person bei grundsätzlich vorhandener Kenntnis über die Risiken der Einnahme von ihnen bekannten Stoffen nicht über sämtliche vorhandenen Risiken aufgeklärt war (…).“ Da auch keine Entzugserscheinungen nachgewiesen werden konnten, die die Entschlussfreiheit des Patienten beeinträchtigt hätten, lehnte der BGH die Tatherrschaft des Arztes ab.
Beachtlich ist schließlich noch die folgende Aussage des Senats: „Soweit dem Urteil des Senats vom 18. Juli 1978 (…)… allgemein die Rechtsauffassung entnommen werden könnte, die aus der Behandlung eines opiatabhängigen Patienten resultierende Garantenpflicht des behandelnden Substitutionsarztes begründe eine „besondere Sorgfaltspflicht“ des Arztes, Schaden von seinem Patienten abzuwenden, und führe – unabhängig von der Freiverantwortlichkeit des Patienten – stets zu einer Täterschaft begründenden Herrschaft des Arztes über das selbstschädigende Verhalten des Patienten, wäre daran nicht festzuhalten.“