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BGH, Beschl. v. 27.10.2015 – 2 StR 312/15: Zum voluntativen Element bei bedingtem Tötungs­vorsatz

Sachverhalt:

Der Angekl. A, der in einem Prozess gegen ÖK als Zeuge aussagen sollte, wurde aufgrund der bevorstehenden Aussage von diesem mit dem Tode bedroht. An einem Sonntag entdeckte A den ÖK mit seinem Bekannten S im Außen­bereich einer Bäckerei. Er fühlte sich durch die Anwesenheit des ÖK in seinem Wohnviertel bedroht und beschloss, ihm einen „Denkzettel“ zu verpassen und ihm zu zeigen, dass er sich keine weiteren Bedrohungen gefallen lassen werde. Er holte daraufhin aus seiner Wohnung eine mit scharfer Munition geladene Waffe und richtete diese auf den wenige Meter entfernt sitzenden, ahnungs­losen ÖK und gab in unmittelbarer Abfolge zwei Schüsse auf ihn ab. Dabei war ihm bewusst, dass er ÖK tödlich treffen konnte; dies nahm er in Kauf. Zugleich war ihm klar, dass ÖK sich keines Angriffs versah. Tatsächlich hatte ÖK den A – anders als S – vor Abgabe der Schüsse nicht wahrgenommen, aus dem besorgten Gesichtsausdruck des S jedoch geschlossen, dass etwas nicht stimme. Er sprang daher auf und floh schutz­suchend in die Bäckerei. A verfolgte ihn und zielte durch die Glasscheibe weiter auf ihn. ÖK floh schließlich über die Straße, wo A einen weiteren Schuss auf ihn abgab, ohne ihn zu treffen. Die weitere Verfolgung gab A in dem Bewusstsein auf, dass er ÖK nicht werde einholen können. Einer der beiden ersten Schüsse verursachte eine Streifschussverletzung am Handgelenk des ÖK.

A hat sich in der Hauptverhandlung dahin eingelassen, dass er ÖK nicht habe treffen wollen. Er habe beim türkischen Militär als „ausgezeichneter Schütze“ gegolten und habe ÖK absichtlich verfehlt. Beim ersten der beiden Schüsse habe er „neben“ ÖK gezielt. Diese Einlassung hat das LG als unwahre Schutz­behauptung gewertet.

Aus den Gründen:

Der BGH betrachtet das Vorliegen des voluntativen Elements des bedingten Tötungs­vorsatzes als nicht trag­fähig begründet. Grundsätzlich führt er aus: „Bedingten Tötungs­vorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist dabei ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen beider Elemente des bedingten Tötungs­vorsatzes (…).“ (Rn. 9)

Der Schluss von einer besonders gefährlichen Gewalthandlung auf bedingten Tötungs­vorsatz sei jedoch nicht zwingend; es sind Umstände zu berücksichtigen, die den Vorsatz im Einzelfall in Frage stellen können, insbes. auch die Motivation des Täters. „Diese Grundsätze gelten auch in Fallkonstellationen, in denen ein Angekl. mit einer scharfen Schusswaffe auf sein Tatopfer schießt.“ (Rn. 11)

Zum konkreten Fall führt der BGH aus: „Der tatrichterliche Hinweis, wonach es „in der Natur der Sache“ liege, „dass der mit bedingtem Tötungs­vorsatz handelnde Täter in Verfolgung seines anders gelagerten Handlungs­antriebs in der Regel über kein Tötungs­motiv“ verfüge (…), greift zu kurz. Zwar trifft es zu, dass der mit bedingtem Tötungs­vorsatz handelnde Täter kein Tötungs­motiv im engeren Sinne hat, weil er den tödlichen Erfolg nicht erstrebt, sondern seinen Eintritt lediglich in Kauf nimmt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dem von einem Tötungs­motiv zu unter­scheidenden konkreten Handlungs­antrieb keine Indiz­wirkung für die Frage zukommt, ob der Täter mit bedingtem Tötungs­vorsatz gehandelt hat oder nicht.“ (Rn. 14) „Der hier festgestellte Handlungs­antrieb des Angekl., seinem Tatopfer die eigene Wehrhaftigkeit vor Augen zu führen, es in seine Schranken zu verweisen und ihm für die ausgesprochene Todesdrohung einen „Denkzettel“ zu verpassen, ist im Rahmen der gebotenen umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände zu berücksichtigen. Er könnte gegen das Vorliegen des voluntativen Elements des bedingten Tötungs­vorsatzes sprechen, weil insbesondere das Motiv, dem Tatopfer einen „Denkzettel“ zu verpassen, ein Über­leben des Tatopfers voraussetzt.“ (Rn. 15)

„Das LG hat darüber hinaus nicht erkennbar in seine Erwägungen eingestellt, dass der Angekl. den Zeugen [ÖK] tatsächlich verfehlt hat, obwohl er aus einer geringen Entfernung von wenigen Metern zweimal auf den arglosen und ihm den Rücken zuwendenden Zeugen schoss.“ (Rn. 16)

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