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BGH, Urt. v. 14.10.2015 – 2 StR 10/15: Zur Erforderlichkeit und Gebotenheit der Notwehr

Sachverhalt:

Der Angekl. A, der Alkohol getrunken und Cannabis konsumiert hatte, traf am Abend des 12.09.2013 in der Wohnung der B auf den Nebenkl. N. Alle drei tranken zusammen Alkohol, bis N sein Handy vermisste und A mehrfach vorwarf, er habe dieses entwendet. Daraufhin kam es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf A ausrief: „Hör auf, Du bringst mich noch um“ und in Rage eine Glasscheibe beschädigte. A schaffte es schließlich, N zu beruhigen, und entschuldigte sich für die zerbrochene Glasscheibe. Im weiteren Verlauf des Abends fragte A den N, ob er ihm 0,5 g Kokain verkaufe. N lehnte ab und äußerte sich abfällig über A; er zeigte demonstrativ auf 1000 € Bargeld, die er bei sich hatte, und sagte, er habe das Geld des A nicht nötig. A ärgerte sich und sagte, N könne seinen „Schmodder“ behalten, er hole sich jetzt etwas Besseres. A ging zur Wohnungs­tür. N, der sich über die Aussage des A geärgert hatte, stand auf, ging auf A zu und drohte, ihn fertig zu machen. A, der kurzzeitig die Wohnung verließ, hielt nunmehr, nach seiner Rückkehr, ein Messer mit einer Klingenlänge von 15 cm vor seiner Brust und rief N zu, er solle ihn in Ruhe lassen und sich „verpissen“. N ging ungeachtet des Messers auf A los und schlug ihm mit der Faust zweimal gegen den Kopf. Daraufhin stach A dem N mit dem Messer in den Brustkorb, um ihn erheblich zu verletzen. Den Tod des N nahm er dabei aber nicht billigend in Kauf. Unmittelbar nach dem Stich sah A, dass N stark blutete, führte ihn ins Wohnzimmer zurück und entschuldigte sich. N verabschiedete sich mit den Worten „Ich sterbe“ und ging vor das Haus, wohin ihm A folgte. Vorher hatte A mit seinem Handy den Notruf angewählt. Vor Eintreffen der Rettungs­kräfte warf A einen bei sich geführten Schlagring in ein Gebüsch neben der Haustür.

Das LG ging davon aus, dass A den Tatbestand des § 224 verwirklicht hat, seine Tat aber durch Notwehr gerechtfertigt sei.

Aus den Gründen:

Nach dem BGH ist die Annahme von Notwehr nicht frei von Rechts­fehlern. Das LG sei „zwar zutreffend davon ausgegangen, dass A durch die Faustschläge des N rechts­widrig angegriffen worden ist, auch wenn man berücksichtigt, dass A den N aufgefordert hatte, ihn in Ruhe zu lassen und „sich zu verpissen“. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass darin ein rechts­widriger Angriff des A auf die Handlungs­freiheit des N gelegen hätte, wären die Faustschläge aber schon kein erforderliches Mittel zur Abwehr dieses Angriffs.“ (Rn. 7)

Zur Erforderlichkeit: A hat „durch das sichtbare Vorzeigen des Messers dessen Einsatz konkludent angedroht (…).“ Die Strafkammer hat außerdem richtig dargelegt, „dass die Erfolgsaussichten seiner Verteidigungs­handlung erheblich eingeschränkt gewesen wären, hätte er versucht, auf weniger sensible Körperpartien des N wie beispielsweise Arme oder Beine einzustechen. Ein Versuch des A, gezielt auf die Extremitäten (…) einzustechen, die wesentlich schwerer zu treffen sind als der Rumpf­bereich, wäre angesichts der räumlichen Enge des Tatorts sowie der Alkoholisierung des A (…) mit einem unzumutbar hohen Fehlschlagrisiko einhergegangen.“ (Rn. 9)

„Keiner ausdrücklichen Erörterung bedurfte es (…), ob A vorrangig zur Abwehr des Angriffs seinen in der Hosentasche mitgeführten Schlagring hätte einsetzen müssen.“ Es sei „bereits nicht ersichtlich (…), warum der Schlagring im Vergleich zum Messer ein milderes, weniger gefährliches Mittel gewesen sein sollte.“ (Rn. 10)

Zur Gebotenheit: Die Ablehnung einer Einschränkung des Notwehrrechts durch das LG begegnet jedoch rechtlichen Bedenken. Es sei „denkbar, dass die feindselige Bemerkung des N, er werde den A fertig machen, gefallen ist, bevor A das Haus verlassen und sodann mit einem Messer in der Hand zurückgekehrt ist. In diesem Fall erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass A einen weiteren Angriff durch N im Hinblick auf das von ihm hervorgeholte Messer vorhergesehen und den darauffolgenden Einsatz „geplant“ oder zumindest mit ihm gerechnet hat. Insoweit unterläge sein Notwehrrecht im Hinblick auf ein sozial-ethisch zu missbilligendes Vor­verhalten Einschränkungen (…).“ (Rn. 11)

„Aber auch dann, wenn man davon ausginge, dass N den A erst im Augenblick, als er ihn mit einem Messer vor sich stehen sah, mit den Worten angriff, ihn fertig machen zu wollen, ist – schon mit Blick auf die Vorgeschichte (…) – zu erwägen, ob nicht das Notwehrrecht des A deshalb Einschränkungen unterliegt.“ (Rn. 12)

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