Zur Rechtswidrigkeit des Angriffs im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB bei hoheitlichem Handeln (amtl. Leitsatz)
Sachverhalt:
Der Angekl. reiste im Jahr 2002 nach Deutschland ein und stellte unter Angabe unrichtiger Personalien Asyl. Der Asylantrag wurde 2005 rechtkräftig abgelehnt. Jedoch wurden seit diesem Zeitpunkt immer wieder befristete Duldungen ausgesprochen, weil die zuständigen Behörden von einem Abschiebehindernis ausgingen. Im Jahr 2008 erfolgte die Ausweisung, jedoch setzte die Ausländerbehörde die Abschiebung wegen Hindernissen weiterhin aus und erteilte eine Duldung. Der Angekl. teilte der Ausländerbehörde nunmehr seine wahre Identität mit und legte Ausweispapiere vor. Daraufhin wurde für den 4.2.2014 die Abschiebung angeordnet, es erging jedoch am 13.1.2014 eine weitere Duldung bis zum 14.4.2014. Eine Woche später beauftragte die Ausländerbehörde nun die zuständige Polizeidirektion mit der Abschiebung von Frankfurt a.M. nach Erbil (Irak). In einem an die Polizeidirektion gerichteten Schreiben teilte die Ausländerbehörde mit, die Abschiebung sei dem Angekl. gegenüber schriftlich mitgeteilt worden; ferner sei ihm aufgetragen worden sich am festgesetzten Tag für die Durchführung der Abschiebung bereit zu halten. Tatsächlich war eine solche Mitteilung an den Angekl. jedoch nicht erfolgt.
Als die Beamten des Polizeidienstes den Angekl. am festgesetzten Tag gegen 4.00 Uhr morgens aufsuchten, war dieser völlig überrascht. Die Beamten forderten den Angekl. auf, sich auszuweisen; dieser händigte ihnen daraufhin seine „Duldung“ aus und erklärte, er werde nicht freiwillig mitkommen und das Land nicht verlassen. Er ergriff ein 20cm langes Küchenmesser, setzte es sich an den Hals und drohte mit einem Suizid. Dadurch erreichte er, dass die Beamten ihm die Duldung zurückgaben und die Wohnung verließen. Die Beamten forderten Verstärkung an; währenddessen überkletterte der Angekl. auf dem Balkon seiner Wohnung eine Abtrennung zum Nachbarbalkon und versteckte sich dort in einem Geräteschuppen. Die hinzugerufenen Beamten – darunter auch E – suchten auch dort und öffneten gegen den Willen des Angekl. der die Tür von innen zuhielt den Schuppen. Die Beamten konnten nun den Angekl. sehen und forderten ihn auf, sich auf den Boden zu legen. Der Angekl., der dies erwartet hatte, aber entschlossen war „sich den Weg freizukämpfen“ stach nun mit dem Messer dreimal schnell hintereinander in Richtung des Oberkörpers des E. Einer der wuchtigen Stiche traf den Türrahmen des Schuppens und beschädigte ihn. Der Angekl. rechnete damit, den Beamten tödlich zu treffen, das „kümmerte ihn jedoch nicht“, es war ihm „gleichgültig“. Die Beamten überwältigten den Angekl. mit Einsatz von Schlagstöcken. Ob einer der Stiche E tatsächlich getroffen hatte, konnte nicht festgestellt werden. In jedem Fall wurde E nicht verletzt, er trug ein Kettenhemd.
Der BGH hat ein Handeln aus Notwehr verneint, weil der Angekl. nicht rechtswidrig angegriffen worden sei und auch nicht mit Verteidigungswillen, sondern mit Angriffswillen zur Ermöglichung seiner Flucht gehandelt habe.
Tötungsvorsatz:
Rn. 14: „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat bedingten Tötungsvorsatz, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen getrennt voneinander geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen (...). In die Prüfung sind dabei neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen.“
Der BGH bejaht dies hier unter Hinweis auf die wuchtigen Stiche mit einem 20cm langen Messer und begründet die Annahme von Tötungsvorsatz weiterhin damit, dass der Angekl. nichts von der Schutzkleidung der Beamten gewusst habe. Schließlich habe auch keine spontane Tatausführung vorgelegen, die zu einem Affekt geführt haben könne, vielmehr habe der Angekl. in der Zeit während er sich in dem Schuppen befand, genug Zeit gehabt, sein weiteres Vorgehen zu überdenken (Rn. 16 ff.).
Notwehr: Strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff
Hinsichtlich der Notwehr stellt der Strafsenat zunächst fest, dass der Angekl. sich einem Angriff auf seine Fortbewegungsfreiheit ausgesetzt sah. Jedoch sei dieser Angriff nicht rechtswidrig erfolgt. Dieser Rechtmäßigkeit iSd § 32 StGB der Vollstreckungshandlung der Polizeibeamten stehe nicht entgegen, dass die Durchführung der Abschiebung verwaltungsrechtlich rechtswidrig gewesen sei und die Voraussetzungen, unter denen die Polizei mit der Durchführung einer Abschiebung beauftragt werden kann „ersichtlich“ nicht vorlagen (Rn. 21 ff.). Aber der BGH wendet bei der Beurteilung von hoheitlichen Maßnahmen im Rahmen von § 32 StGB ebenso wie bei § 113 StGB einen strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff an, der nicht streng akzessorisch an das Verwaltungsrecht gebunden ist:
Rn. 25: „Die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns in einem strafrechtlichen Sinne hängt vielmehr lediglich davon ab, dass „die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Beamten“ gegeben sind, „er also örtlich und sachlich zuständig“ ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der Hoheitsträger sein – ihm ggf. eingeräumtes – Ermessen pflichtgemäß ausübt (...). Befindet sich allerdings der Hoheitsträger in einem schuldhaften Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung, handelt er willkürlich oder unter Missbrauch seines Amtes, so ist sein Handeln rechtswidrig (...).“
Zur Begründung führt der BGH aus, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns müsse stets die konkrete Situation in den Blick genommen werden, in der sich die vollstreckenden Polizeibeamte befinden (Rn. 28 ff.):
" Diese müssen sich in der konkreten Situation in der Regel unter einem gewissen zeitlichen Druck auf die Ermittlung eines äußeren Sachverhalts beschränken, ohne die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns auf der Grundlage des materiellen Rechts oder des (Verwal-tungs)Vollstreckungsrechts bis in alle Einzelheiten klären zu können (...). Das Bundesverfassungsgericht hat vor dem dargestellten Hintergrund bezüglich der Auslegung des Rechtmäßigkeitsbegriffs in § 113 Abs.3 StGB verfassungsrechtlich akzeptiert, dass bei der Notwendigkeit umgehenden behördlichen Einschreitens eine Pflicht des betroffenen Bürgers zur Befolgung einer wirksamen, wenn auch gegebenenfalls rechtswidrigen Diensthandlung besteht (...). Er muss die Amtshandlung grundsätzlich hinnehmen und kann erst nachträglich eine Feststellung der eventuellen Rechtmäßigkeit der Maßnahme erreichen (...). Die Entlastung des Vollzugsbeamten von dem Risiko, dass sich bei einer ex post erfolgenden Prüfung der Rechtmäßigkeit seines hoheitlichen Handelns am Maßstab meist des materiellen Verwaltungsrechts oder des Verwaltungsvollstreckungsrechts seine ex ante unter den kon-kreten Bedingungen seines Handelns vorgenommene Rechtmäßigkeitsbeurtei-lung als unzutreffend erweist und dem von der Maßnahme betroffenen Bürger dann eine ggf. gewaltsame Verteidigung gegen den Hoheitsträger offen stünde, dient gerade im demokratischen Rechtsstaat der Sicherung der Entschlusskraft der eingesetzten Vollzugsbeamten (...).“
Hier werde der Betroffene Bürger auch nicht rechtlos gestellt, weil ihm nachträglicher Rechtsschutz zur Verfügung stehe. Die Abwägung der jeweils beteiligten Interessen, des Bürgers, dem durch den Staat – anders als durch private Angreifer – kein endgültiger Rechtsverlust droht, auf der einen Seite und der Vollzugsbeamten, der bei verwaltungsrechtlichen Fehlern bereits tödlicher Gefahr ausgesetzt sein könnte, ergebe die Notwendigkeit eines solchen strafrechtlichen Rechtsmäßigkeitsbegriffs. Die Grenzen seien erst erreicht, wo es um willkürliche Vollstreckungsakte oder nichtige Verwaltungshandlungen gehe.
Im vorliegenden Fall sei die Vollstreckung strafrechtlich rechtmäßig gewesen, insbesondere hätten sich die Polizeibeamten nicht schuldhaft über die verwaltungsrechtliche Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung geirrt.Allein der Hinweis auf die Duldung, die der Angekl. den Beamten auch sofort wieder entzogen haben, reiche nicht aus, um die Schuldhaftigkeit des Irrtums zu begründen. Schließlich habe der Angekl. auch keinen endgültigen Rechtsverlust fürchten müssen: (Rn. 42)
„Vorliegend verfügte der Angeklagte über eine Ausfertigung der bis zum 14. April 2014 befristeten Duldungsverfügung. Zwischen dem polizeilichen Zugriff gegen 4.30 Uhr und dem Abflug des Flugzeugs nach Erbil (Irak) vom Flughafen Frank-furt/Main um 10.10 Uhr verblieb genügend Zeit, um durch die Vollzugspolizeibeamten mittels Nachfrage bei der zuständigen Ausländerbehörde nach Beginn deren regelmäßiger Dienstzeit klären zulassen, ob die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Abschiebung vorlagen oder diese (noch) durch eine wirksam erteilte Duldung gehindert war. Es drohte daher im Hinblick auf das Recht zum Aufenthalt im Inland bis zum Ablauf der Duldungsfrist dem Angeklagten kein endgültiger Rechtsverlust. Die Freiheitsentziehung bis zu der Klärung der voll-streckungsrechtlichen Rechtslage durch Einschaltung der Ausländerbehörde musste der Angeklagte aus den für das Bestehen eines spezifischen strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs bei hoheitlichem Handeln maßgeblichen Gründen gerade dulden und durfte sich nicht mit erheblicher Gewaltanwendung dagegen wehren.“
Irrtümer
Einen Erlaubnistatbestandsirrtum habe das Landgericht zutreffend verneint, es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich. Dem Angeklagten sei es darauf angekommen seine Festnahme zu verhindern und seine Flucht zu ermöglichen. Gleiches gelte für einen Irrtum nah § 17 StGB. Schließlich lehnt der BGH sogar noch ein unmittelbar aus dem Verfassungsrecht herrührendes Verbot der Bestrafung ab.