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BGH, Urt. v. 24.11.2016 – 4 StR 289/16: Garantenpflicht des Ehe­partners bei unerwarteter Entwicklung der Selbstgefährdung zur konkreten und akuten Todesgefahr

Sachverhalt:

Der Angekl. A und N waren seit 2007 verheiratet, wobei N nach einiger Zeit aufgrund psychosomatischer Beschwerden unter starkem Gewichtsverlust litt. A bemerkte dies, begleitete N auch bei Arztbesuchen, kümmerte sich aber weiter nicht um den Gesundheitszustand seiner Frau. Den Haushalt und die Kinderbetreuung sah er als Aufgaben der N an. Am 30.4.2013 litt N in der Nacht und am folgenden Tag an starken Bauchschmerzen und Durchfall. Am nächsten Morgen verließ A nach 6 Uhr das Haus und fuhr zur Arbeit. Um den gesundheitlichen Zustand der N kümmerte er sich nicht weiter. N versorgte „so gut es ging“ die Kinder, verbrachte aber den Rest des Tages „zumeist völlig erschöpft“ auf dem Sofa. Im Verlauf des Tages sank ihre Körpertemperatur. A bemerkte den gegenüber dem Morgen deutlich verschlechterten Zustand der N und erkannte, dass sie dringend ärztlicher Hilfe bedurfte. Er unternahm jedoch nichts. Am Abend lag N auf dem Sofa und fror. A deckte sie zu und bemerkte dabei die Kälte, die von ihrem Körper ausging. Er erkannte, dass „die Lage ernst“ war, verdrängte diesen Gedanken jedoch, insbesondere rief er keinen Arzt. Nach 21 Uhr setzte A sich neben N auf das Sofa und sah fern. Auch hierbei bemerkte er die Kälte, die von N, deren Körpertemperatur inzwischen auf ca. 33 Grad gesunken war, ausging. A unternahm aber auch weiterhin nichts. Gegen 2 Uhr wachte A auf, holte N eine neue Decke und deckte sie zu. Hierbei berührte er sie und spürte die von ihr ausgehende „Leichenkälte“. Spätestens jetzt erkannte er, dass sich N in Lebens­gefahr befand. Gleichwohl unternahm er auch weiterhin nichts, obwohl ihm bewusst war, dass er als Ehemann Verantwortung für N trug und verpflichtet war, ihr zu helfen. Gegen 6 Uhr wachte A auf. N hatte sich erbrochen und war nicht mehr ansprechbar; ihre Augen waren starr und ihre Pupillen reagierten – wie der A erkannte – nicht mehr. Daraufhin verständigte A den Notarzt. Aus medizinischer Sicht war zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, dass ihr Leben gerettet werden kann. Tatsächlich stabilisierte sich der Zustand von N nach und nach.

Das LG hat das Handeln des A als gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5, 13) angesehen. N sei zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihres erheblich geschwächten Gesundheitszustandes nicht mehr in der Lage gewesen, selbst Maßnahmen zu ergreifen, um dem bereits begonnenen Sterbeprozess entgegenzuwirken. Seiner bestehenden konkreten Handlungs­pflicht sei A bewusst nicht nachgekommen, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, ärztliche Hilfe zu holen. Durch das Unterlassen, das für N lebens­gefährdend gewesen sei, habe sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert.

Aus den Gründen:

Der BGH stellt hierzu fest, die Kammer habe zu Recht eine Garantenstellung des A für seine Ehefrau angenommen, die ihn verpflichtete ärztliche Hilfe zu rufen, als er den Gesundheitszustand der N erkannte. Der Senat führt aus (Rn. 22): „Zwar unterfällt nach der ständigen Rechts­prechung des BGH eine eigen­verantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungs­delikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungs­delikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit strafbarer Vorgang ist (…).

„Eine eigen­verantwortliche Selbstgefährdung ihres Lebens oder ihrer Gesundheit durch N schloss hier jedoch die Garantenpflicht des Angekl. zur Abwendung der (zumindest) lebens­gefährlichen Gesundheitsschädigung der N nicht aus. Der BGH hat bereits entschieden, dass die Erfolgsabwendungs­pflicht eines Garanten nicht stets schon dann entfällt, wenn sein Verhalten zunächst lediglich eine eigen­verantwortliche Selbstgefährdung derjenigen Person ermöglicht, für dessen Rechts­gut bzw. Rechts­güter er als Garant rechtlich im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB einzustehen hat (…). Die Straflosigkeit des auf die Herbeiführung des Risikos gerichteten Verhaltens ändert nichts daran, dass für den Täter Garantenpflichten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst. Mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage ist der Täter verpflichtet, den drohenden Erfolg abzuwenden (…).“

„An diesen Grundsätzen ist jedenfalls dann festzuhalten, wenn das Verhalten des Opfers sich in Bezug auf das Rechts­gut Leben und Gesundheit in einer eigen­verantwortlichen Selbstgefährdung erschöpft (…). In diesen Fällen bleibt zwar die Beteiligung an der eigen­verantwortlichen Selbstgefährdung für einen Garanten an sich straffrei, bei Realisierung des von dem betroffenen Rechts­gutsinhaber eingegangenen Risikos besteht indes eine strafbewehrte Erfolgsabwendungs­pflicht aus § 13 Abs. 1 StGB. Denn anders als in den Selbsttötungs­fällen erschöpft sich im Fall der Selbstgefährdung die Preisgabe des eigenen Rechts­guts gerade darin, dieses in einem vom Betroffenen jedenfalls in seinem wesentlichen Grad zutreffend erkannten Umfang einem Risiko auszusetzen. Eine Hinnahme des als möglich erkannten Erfolgseintritts bei Realisierung des eingegangenen Risikos ist mit der Vornahme der Selbstgefährdung indes nicht notwendig verbunden. Entwickelt sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen daher erwartungs­widrig in Richtung auf den Verlust des Rechts­guts, umfasst die ursprüngliche Entscheidung des Rechts­gutsinhabers für die (bloße) Gefährdung seines Rechts­guts nicht zugleich den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des nunmehr in einen Zustand konkreter Gefahr geratenen Rechts­guts. Eine Person, die nach den allgemeinen Grundsätzen des § 13 Abs. 1 StGB Garant für das bedrohte Rechts­gut ist, trifft dann im Rahmen des tatsächlich Möglichen und ihr rechtlich Zumutbaren die Pflicht, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden (…).“

„Dies zugrunde gelegt, bestand für den Angekl. eine Garantenpflicht, der er nicht nachgekommen ist, weil er um bzw. kurz nach 2 Uhr, als die Möglichkeit der Abwendung der (weiteren) lebens­gefährlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Nebenklägerin bestand, auf das Herbeirufen medizinischer Hilfe verzichtet hat. (...)“

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