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BGH, Urt. v. 29.06.2016 – 2 StR 588/15: Zum Rücktritt vom versuchten Totschlag bei sog. überholender Kausalität

Sachverhalt:

Die Angekl. A wurde als 16-jährige mit IF zwangs­verheiratet und lebt seitdem mit diesem in einer durch Gewalt und Erniedrigungen geprägten Ehe. Ab 2008 saß IF im Rollstuhl und erlitt mehrere Herzinfarkte. A war infolge des jahrelang durchlittenen Martyriums seelisch krank. Am Morgen des 3.1.2013 erlitt der in seinem Rollstuhl sitzende IF einen Herzinfarkt und fiel auf den Boden. Als A ihren zwischenzeitlich bewusstlosen Ehemann fand, fasste sie spontan den Entschluss, ihn zu töten. Hierzu nahm sie einen Schal, legte ihn IF um den Hals und zog ihn fest zusammen. Nach einiger Zeit erschrak sie jedoch über ihr Tun und ließ von IF ab. Sie lief zu ihren Nachbarn, um Hilfe zu holen. Als A an der Wohnungs­tür der Nachbarn klingelte, war IF bereits gestorben. Das LG ging in dubio pro reo vom Herzinfarkt als Todesursache aus und verurteilte A wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit § 224.

Aus den Gründen:

Die Revision der A hat Erfolg, da die Erwägungen des LG zum strafbefreienden Rücktritt durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen. § 24 sei „nicht auf Fälle beschränkt, in denen die Vollendung mangels tatbestandsmäßigen Erfolges ausbleibt. Die Vorschrift ist vielmehr auch dann anwendbar, wenn zwar ein tatbestandsmäßiger Erfolg eintritt, dieser jedoch nicht kausal auf die Angriffshandlung des Täters zurückgeführt werden kann, der konkrete Erfolg also auch dann eingetreten wäre, wenn der Täter überhaupt nicht auf das Opfer eingewirkt hätte (sog. überholende oder abgebrochene Kausalität).“ (Rn. 15)

Das LG ging von einem beendeten Versuch aus: „Die Strafkammer hat zwar angenommen, dass die A mit gehöriger Entschlossenheit das Strangulations­werkzeug zugezogen hat und dass die Strangulation todesursächlich gewesen sein kann. (…) Dass aber A tatsächlich nach Abschluss der letzten Ausführungs­handlung angenommen hat, bereits alles Erforderliche zur Verwirklichung des angestrebten Erfolgs getan zu haben, lässt sich den Feststellungen nicht sicher entnehmen.“ (Rn. 17) Das Vorliegen eines unbeendeten Versuchs, von dem A durch bloße Un­tätigkeit strafbefreiend hätte zurücktreten können, sei nicht ausgeschlossen.

Für die neue Hauptverhandlung weist der BGH auf Folgendes hin: „Sollte für die Strafbarkeit der A nicht an ihrem aktiven Tun angeknüpft werden können, weil insoweit von einem strafbefreienden Rücktritt ausgegangen werden muss, müsste sich der Tatrichter mit einem in diesem Fall „wiederauflebenden“ möglichen pflichtwidrigen Unterlassen der A auseinandersetzen.“ (Rn. 21) Allerdings käme (…) nur ein (untauglicher) Versuch des Totschlags durch Unterlassen in Betracht, da zu Gunsten der A davon ausgegangen werden müsste, dass eine Lebens­rettung nicht mehr möglich war und damit das Unterlassen der A für den Erfolg nicht mehr ursächlich gewesen sein konnte.“ (Rn. 22) „Von einem solchen Totschlagsversuch durch Unterlassen hätte die A auch nicht mehr strafbefreiend zurücktreten können. Der Rücktritt des Unterlassenstäters ist nach der Rspr. des BGH nach den Grundsätzen des beendeten Versuchs beim Begehungs­delikt gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StGB zu beurteilen, da den Täter von der ersten Rettungs­möglichkeit an eine Pflicht zum Handeln trifft.“ (Rn. 24)

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