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BGH, Urt. v. 8.06.2016 – 5 StR 564/15: Zur Erforderlichkeit der Verteidigungs­handlung bei Einsatz eines Messers

Sachverhalt:

Der Angekl. A und der Nebenkl. N lebten in einer Unterkunft für Wohnungs­lose. Am Tatmorgen betrat der erheblich alkoholisierte N das Zimmer des A und schlug diesem unvermittelt und ohne, dass dieser dazu Anlass gegeben hätte, mit der Hand ins Gesicht. A flüchtete aus seinem Zimmer und rief mit seinem Handy den polizeilichen Notruf an. N folgte ihm und griff A, der sich in der Küche in Sicherheit bringen wollte, erneut an. N packte A und schlug ihn zuerst mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe und presste anschließend seinen Kopf mit starkem Druck gegen das Glas. A schlug um sich, was N dazu veranlasste ihn noch fester gegen die Scheibe zu drücken. Daraufhin ergriff A spontan ein in Reichweite liegendes Küchenschälmesser und stach in Verteidigungs­absicht ungezielt auf N ein. Gleichzeitig versuchte er, N von sich wegzudrücken. N ließ nach den ersten Stichen den Kopf des A los, schlug aber weiter auf ihn ein. A stach weiter ungezielt ohne Unterlass auf N ein, bis dieser rückwärts zu Fall kam und keinen Widerstand mehr bot. Hierbei nahm A  billigend in Kauf, dass N durch die Stiche zu Tode kommen könnte. A schüttelte N nun so, dass dessen Kopf mehrfach gegen die Wand schlug. Dabei schrie er laut und weinte, da er dachte, er habe N getötet. N konnte durch zeitnahe medizinische Versorgung gerettet werden.

Das LG hat hinsichtlich der Messerstiche eine objektive Notwehrlage angenommen, verneinte jedoch die Erforderlichkeit der Verteidigungs­handlung. A habe die Möglichkeit gehabt, N durch Gesten oder jedenfalls verbal auf das Messer hinzuweisen und mit seinem Einsatz zu drohen oder zunächst in weniger gefährdete Körper­bereiche zu stechen. A hätte zudem die Stichserie unterbrechen müssen, um N die Gelegenheit zu geben, seinen Angriff zu beenden. Ein Rücktritt vom beendeten Versuch liege nicht vor

Aus den Gründen:

Der BGH bejaht dagegen die Erforderlichkeit des Verteidigungs­mittels. Ob das Notwehrmittel geeignet ist, zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs zu führen und es sich um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand, muss aus „einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungs­handlung beurteilt werden.“ Auf weniger gefährliche Verteidigungs­mittel muss der Angegriffene nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehr­wirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auch der sofortige lebens­gefährdende Einsatz einer Waffe kann durch Notwehr gerechtfertigt sein. „Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist der Gebrauch eines bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers allerdings in der Regel anzudrohen.“ (Rn. 11)

Im vorliegenden Fall hält der Senat dies aber nicht für erforderlich: Das Risiko einer ungeeigneten Verteidigungs­handlung sei hier unkalkulierbar gewesen. Zudem habe A mit seinem „panischen“ Umsichschlagen zunächst tatsächlich eine weniger gefährdende Abwehrhandlung vorgenommen, die aber erfolglos blieb. Unter Berücksichtigung des Vorgeschehens sei eine weitere Eskalation des Geschehens bei einer erneut ungeeigneten Verteidigungs­handlung objektiv zu befürchten gewesen. (Rn. 13) Es sei auch „höchst zweifelhaft“, ob das Androhen des Messereinsatzes oder Stiche in weniger sensible Körper­bereiche zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs geführt hätten. (Rn. 14)

Hingegen sei zu prüfen gewesen, ob das weiterhin „ohne Unterlass“ erfolgende, ungezielte Einstechen noch durch Notwehr gerechtfertigt war, da nach den ersten Stichen eine Entspannung der Bedrängnis des A eingetreten sei, weil N den Kopf des A losgelassen hatte und (nur) noch auf den Hals- und Schulter­bereich des A einschlug. (Rn. 15) Ohne Zweifel sei aber das Schütteln des am Boden liegenden N nicht mehr durch Notwehr gerechtfertigt. (Rn. 18)

Der Senat zweifelt auch an der Annahme eines beendeten Versuchs durch A: „Für die Abgrenzung kommt es dabei auf die Vorstellung des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungs­handlung an. Entscheidend ist, ob der Täter zu diesem Zeitpunkt den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont)“ (Rn. 20) Entscheidender Zeitpunkt sei hier der Augenblick, in dem A aufhörte, auf N einzustechen, also bereits als A bemerkt hatte, dass N sich ohne weiteren Widerstand zurückschieben ließ. Es sei aber nicht ersichtlich, dass A bereits zu diesem Zeitpunkt davon ausging, N getötet zu haben. Es läge vielmehr nahe, „dass der Angeklagte diese Vorstellung erst entwickelte, als der Nebenkläger zu Fall kam. In diesem Zeitpunkt waren seine Messerangriffe jedoch bereits beendet.“ (Rn. 21)

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