Sachverhalt:
An Silvester feierte der Angekl. A mit seinem Bruder S und seiner Lebensgefährtin L zunächst in einer Bar den Jahreswechsel. Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit S zog sich A gegen 0.30 Uhr verärgert in seine Wohnung zurück und machte gegenüber L klar, dass er S in dieser Nacht nicht mehr sehen wolle. Dennoch begleitete S die L in die Wohnung des A, was den A verärgerte. S begann deshalb eine körperliche Auseinandersetzung, in deren Verlauf er dem A massive Faustschläge gegen den Kopf versetzte. S ließ schließlich von A ab und stand auf. Um S aus dem Haus zu weisen, griff A nach zwei Messern mit einer Klingenlänge von 18 cm und 13,5 cm und forderte S zum Verlassen der Wohnung auf. S ging in Richtung Ausgang, wohin ihm A folgte. Am oberen Treppenabsatz drehte sich S noch einmal um und machte A klar, dass er es sich nicht gefallen lassen würde, vom seinem Bruder mit Messern aus dem Haus geworfen zu werden. In Erinnerung an die massiven Schläge im Wohnzimmer stach der A nunmehr aus Angst um sein Leben und in der Absicht, sich zu verteidigen, dreimal von vorne auf den Oberkörper des S ein. S bewegte sich in einer ersten Reaktion auf A zu, welcher ihm in Todesangst einen vierten Stich in den Rücken versetzte. S verstarb sofort an den zugefügten Stichverletzungen. Das LG hat A vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. A habe in Notwehr gehandelt, da er sein Hausrecht verteidigen wollte.
Aus den Gründen:
Der Senat hält die Verteidigung für nicht geboten. „Das Merkmal der Gebotenheit [erfordert] im Einzelfall sozialethisch begründete Einschränkungen an sich erforderlicher Verteidigungshandlungen. Die Verteidigung ist dann nicht geboten, wenn von dem Angegriffenen aus Rechtsgründen die Hinnahme der Rechtsgutsverletzung oder eine eingeschränkte und risikoreichere Verteidigung zu verlangen ist.“ (Rn. 36)
Das LG habe zwei Umstände, die zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen konnten, nicht in den Blick genommen.
a) Notwehrprovokation:
„Wer durch ein sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten einen Angriff auf sich schuldhaft provoziert hat, auch wenn er ihn nicht in Rechnung gestellt haben sollte oder gar beabsichtigt hat, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten zur Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit verschließt, ist er zu entsprechend weitreichender Verteidigung befugt. Gegen einen unbewaffneten Gegner kommt der Gebrauch einer lebensgefährlichen Waffe nur in Ausnahmefällen in Betracht; er darf nur das letzte Mittel zur Verteidigung sein.“ (Rn. 38)
„Vorliegend war der Angeklagte seinem Bruder mit Messern in den Händen gefolgt, obwohl die vorherige Auseinandersetzung bereits beendet war und sich der Bruder, der sich bereits wieder beruhigt hatte, auf dem Weg zum Ausgang befand. Hierin konnte […] ein sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten liegen, das zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führte.“ (Rn. 38)
Von S sei zu diesem Zeitpunkt nämlich kein Angriff auf das Hausrecht mehr ausgegangen. „Schon bei der Verfolgung des Bruders mit Messern konnte sich der Angeklagte nicht auf Notwehr zur Durchsetzung des Hausrechts berufen. Ein Hausfriedensbruch gemäß § 123 Abs. 1 Alt. 2 StGB liegt erst dann vor, wenn der Täter nach der Aufforderung, sich zu entfernen, den Raum nicht unverzüglich verlässt. Das weitere Verweilen muss dabei von solcher Dauer sein, dass es sich als Ungehorsam gegen die ergangene Aufforderung darstellt. Erst das Überschreiten dieser Grenze führt dazu, dass der Täter ohne Befugnis verweilt und damit ein rechtswidriger Angriff auf das Hausrecht vorliegt.“ Der Bruder sei aber der Aufforderung des A, das Haus zu verlassen, unverzüglich gefolgt und habe sich zur Treppe begeben, die zum Hausausgang führt. Das Verfolgen des Bruders mit Messern könnte den Anschein eines bevorstehenden Angriffs erweckt haben und das Notwehrrecht des A aus sozialethischen Gründen eingeschränkt haben, sodass er hätte versuchen müssen, dem Angriff seines Bruders auszuweichen. (Rn. 40)
b) Persönliches Näheverhältnis
„Bei einer solchen engen familiären und persönlichen Beziehung, wie sie hier zwischen den beiden Brüdern bestand, dürfen lebensgefährliche Verteidigungsmittel nicht ohne Weiteres angewendet werden, wenn der Angreifer unbewaffnet ist und statt einer Trutzwehr auch eine Schutzwehr möglich ist.“ (Rn. 41)
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