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BGH, Beschl. v. 4.6.2019: Gesamtwürdigung aller Tatumstände zur Feststellung bedingten Tötungs­vorsatzes

Sachverhalt: Während eines Streits schlug der Angeklagte S dem H mit der Faust auf das Auge. Als H begann, sich zu wehren, entschloss sich der das Geschehen bis dahin beobachtende Angeklagte Sh., auf Seiten seines Freundes S in die Auseinandersetzung einzugreifen. Er zog – was S wahrnahm – ein Messer und bewegte sich damit drohend auf H zu. Gemeinsam bewegten sich die Angeklagten nun auf den zurückweichenden H zu. Als dieser zu fliehen begann, folgten sie ihm und schlugen dabei mehrfach auf ihn ein. Im Verlauf der weiteren Auseinandersetzung fiel S zu Boden, während Sh. vor H stand. Unter Ausnutzung dieser Situation stand S auf, zog ein Klappmesser und stach damit H unterhalb des linken Schulterblattes in den Rücken. Sh., der sich weiterhin vor H befand, sah und billigte all dies. S und Sh. führten ihren Angriff fort, indem sie H traten, schlugen und ihm einen Kopfstoß versetzten. Sodann ergriffen sie die Flucht. H erlitt eine ca. 1,5 cm tiefe Stichwunde am linken Schulterblatt, die nicht akut lebens­gefährlich war sowie Prellungen und Schürfmarken.

Das LG hat S und Sh. wegen jeweils (gemeinschaft­lichen) versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Aus den Gründen:

Die Annahme von Tötungs­vorsatz begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, denn es fehlte an der notwendigen umfassenden Gesamtwürdigung aller objektiven und subjektiven Tatumstände: „Zwar ist das LG im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen ein bedingter Tötungs­vorsatz naheliegt.“ Dass der Stich mit dem Messer in den Rücken des H eine äußerst gefährliche Gewalthandlung war, belegen die Feststellungen nicht aber nicht. Das LG hat „den gegenläufigen Umstand, dass H tatsächlich keine erheblichen Verletzungen erlitten hat, nicht hinreichend in die Bewertung eingestellt. (…) Angesichts der festgestellten Stichtiefe von lediglich 1,5 cm hätte es näherer Erörterung bedurft, ob S den Stich – möglicherweise – nicht mit großer Wucht und Intensität (…) ausgeführt hat.“ (Rn. 12)

Das LG hätte auch berücksichtigen müssen, „dass es sich innerhalb des dynamischen Geschehens einer Auseinandersetzung um eine ‚spontane Handlung‘ des S gehandelt hat (…). Auch das Nachtat­verhalten von S und Sh. durfte das LG bei der Prüfung des bedingten Tötungs­vorsatzes nicht unberücksichtigt lassen (…). Dass sich die Angeklagten nach dem Stich auf nicht lebens­gefährdende Verletzungs­handlungen in Form von Schlägen, Tritten und einem Kopfstoß beschränkten, ist ein gewichtiger, gegen die Annahme bedingten Tötungs­vorsatzes sprechender Umstand (…).“ (Rn. 13)

Rechts­fehlerhaft war auch die Zurechnung des von S geführten Messerstiches im Wege sukzessiver Mittäterschaft. „Nach der Rspr. des BGH zieht bei einem Geschehen, welches schon vollständig abgeschlossen ist, das Einverständnis des später Hinzutretenden trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage eine strafbare Verantwortung für das bereits abgeschlossene Geschehen nicht nach sich (…). Der Einsatz des Messers durch S war nach den Feststellungen beendet und abgeschlossen, als S und Sh. sodann einvernehmlich dazu übergingen, H nur noch zu schlagen und zu treten.“ (Rn. 14)

Sollte das neue Tatgericht zur Annahme eines bedingten Tötungs­vorsatzes kommen, muss es sich damit auseinandersetzen, ob S und Sh. strafbefreiend vom Versuch des Totschlags zurückgetreten sind. „Im Hinblick darauf, dass der Stich (…) ohne spürbare unmittelbare Folgen blieb und die Angekl. im Anschluss daran weiter auf H eintraten und -schlugen, ist weder offensichtlich noch naheliegend, dass die Angekl. davon ausgingen, der Stich könne den Tod sicher oder möglicherweise herbeiführen.“ (Rn. 17)

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