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BGH, Urt. v. 3.07.2019 – 5 StR 132/18: Zur Strafbarkeit eines Arztes bei frei­verantwortlichem Suizid

Amtlicher Leitsatz:

Angesichts der gewachsenen Bedeutung der Selbst­bestimmung des Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben kann in Fällen des frei­verantwortlichen Suizids der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln.

Sachverhalt:

Die 85-jährige W und die 81-jährige M lebten gemeinsam in einer Eigentumswohnung und führten ihren Haushalt weitgehend selbständig. Beide Frauen litten unter mehreren zwar nicht lebens­bedrohlichen, aber die Lebens­qualität zunehmend einschränkenden Krankheiten (unter anderem Bluthochdruck, beginnende Erblindung, Herzbeschwerden). Schon im Jahr 2010 hatten M und W Patientenverfügungen verfasst. Als sich ihre Beschwerden und Krankheiten seit Ende 2010 verschlechterten, wuchs bei ihnen die Sorge, pflegebedürftig zu werden. Nachdem sie sich bereits seit mehreren Jahren mit dem Thema Suizid und Sterbebegleitung beschäftigt hatten, beschlossen sie, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Sie empfanden ihre zunehmenden Beschwerden als „unerträglich“ und fanden, „es sei Zeit zu gehen“. Alternativen (betreutes Wohnen, Seniorenheim etc.) lehnten sie ab. 

Über den Verein S erhielten sie Kontakt zum A, einem approbierten Fach­arzt für Neurologie und Psychiatrie, der seit dem Jahr 2003 ausschließlich neurologische und psychiatrische Gutachten über die Urteils- und Einsichts­fähigkeit von Suizidwilligen sowie über die Wohlerwogenheit ihres Suizidbeihilfewunsches erstellt. Die Frauen beauftragten den A mit der Erstellung eines Gutachtens, das dem Verein als Grundlage für die Entscheidung über die Suizidbegleitung dienen sollte. In seinem erstellten Gutachten attestierte er beiden Frauen aus psychiatrischer Sicht jeweils eine uneingeschränkte Einsichts- und Urteils­fähigkeit und kam zu dem Ergebnis, dass aus ärztlich-psychiatrischer Sicht keine Einwände gegen ihren Suizidbeihilfewunsch zu erkennen seien. 

Nachdem beide ihn wiederholt um eine Begleitung bei ihrer Selbsttötung gebeten hatten, erklärte er sich schließlich hierzu bereit. Einzelheiten und Formalitäten der Durchführung des Suizids wurden besprochen. Der Sterbewunsch und Alternativen wurden thematisiert. Sie unterzeichneten auf Veranlassung des A ein Formblatt, in dem sie den Wunsch äußerten, ihr Leben in Frieden und Würde zu beenden. Für den Fall ihrer Handlungs­un­fähigkeit untersagten sie jegliche Rettungs­maßnahmen. Am Tag vor ihrem Suizid verfassten sie eine weitere Erklärung, in der sie – auch unter Verweis auf ihre Patientenverfügungen – jeder sie etwa noch lebend antreffenden Person im Falle ihrer Handlungs­un­fähigkeit Rettungs­maßnahmen verboten. Sie beauftragten ergänzend W.s Neffen, gegen dem Verbot zuwiderhandelnde Personen „Regress- und Schmerzensgeldforderungen“ einzuklagen. Schließlich verfassten sie Abschiedsbriefe an ihre Angehörigen und Freunde. 

Am vereinbarten Tag sagte A ihnen zu, dass er ihrem Wunsch entsprechend bis zum sicheren Herzstillstand bleiben werde. Der A fragte sie nochmals, ob sie sicher seien, die Selbsttötung jetzt durchführen zu wollen. Beide Frauen bejahten dies; sie waren fest entschlossen, den von ihnen seit langem geplanten Suizid umzusetzen. Nachdem sie unter Mithilfe des A die für ihre Selbsttötung erforderlichen Medikamente zerkleinert und in Wasser aufgelöst hatten, nahmen sie die Lösung selbständig ein. Bereits kurze Zeit später schliefen sie ein. Im Zeitpunkt des Bewusstseinsverlustes der Frauen bestand zwar noch eine „gewisse Chance“, ihr Leben zu erhalten. Die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Rettung war jedoch äußerst gering. Wenn überhaupt, hätten beide mit schwersten Hirnschäden überlebt. Dies war dem A bewusst. Er rief nicht den Notarzt und unternahm auch sonst keine Rettungs­bemühungen, um dem Willen der Frauen zu entsprechen. Für eine Willensänderung ergaben sich auch nach der Medikamenteneinnahme keine Anzeichen. Beide Frauen verstarben etwa eine Stunde später. 

Das LG hat eine Strafbarkeit wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft und wegen eines Betäubungs­mitteldelikts aus tatsächlichen, eine solche wegen versuchter Tötung auf Verlangen sowie unterlassener Hilfeleistung aus rechtlichen Gründen verneint. 

Die hiergegen gerichtete Revision der Staats­anwaltschaft ist unbegründet. Der Freispruch des A hält rechtlicher Über­prüfung stand. 

Aus den Gründen:

„1. Auf der Grundlage der rechts­fehlerfrei getroffenen Feststellungen hat sich der A nicht wegen eines vollendeten Tötungs­delikts durch aktives Tun (§ 212 Abs. 1 oder § 216 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. Vielmehr stellt sich sein Handeln insoweit als straflose Beihilfe zum eigen­verantwortlichen Suizid dar.  (Rn. 16)

a) Die eigen­verantwortlich gewollte und verwirklichte Selbsttötung erfüllt nicht den Tatbestand eines Tötungs­delikts. Für die Abgrenzung einer – dementsprechend mangels rechts­widriger Haupttat straflosen – Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung eines anderen, gegebenenfalls auf dessen ernsthaftes Verlangen, kommt es nach der Rechts­prechung des Bundes­gerichtshofs darauf an, wer das zum Tod führende Geschehen zuletzt beherrscht. Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Letzteres ist hier der Fall. Zwar hat der A das zur Bereitstellung der Medikamente vom S geforderte Gutachten erstattet, die beiden Frauen über deren Einnahme beraten und diese bei der Herstellung der tödlichen Medikamentenlösung unterstützt. Nach den Feststellungen führten die Suizidentinnen aber den lebens­beendenden Akt eigenhändig aus, indem sie die Flüssigkeiten tranken und damit das zum Tod führende Geschehen bis zuletzt selbst beherrschten. (Rn. 17, 18)

Dem A können die Selbsttötungs­handlungen der Frauen auch nicht nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zugerechnet werden. 

aa) Notwendige Bedingung einer Strafbarkeit wegen eines Tötungs­delikts in mittelbarer Täterschaft in Konstellationen der Selbsttötung ist, dass derjenige, der allein oder unter Mit­wirkung eines Dritten Hand an sich anlegt, unfrei handelt. Ein Begehen der Tat durch Benutzung des Suizidenten als „Werkzeug“ gegen sich selbst setzt daher voraus, dass dieser seinen Selbsttötungs­entschluss aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeits­defizits nicht frei­verantwortlich gebildet hat. Befindet sich der Suizident – vom „Suizidhelfer“ erkannt – in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage, kann sich das Verschaffen der Möglichkeit des Suizids als in mittelbarer Täterschaft begangenes Tötungs­delikt darstellen. Frei­verantwortlich ist demgegenüber ein Selbsttötungs­entschluss, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteils­fähigkeit für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des Entschlusses gegeben sind. Zum Ausschluss der Frei­verantwortlichkeit müssen konkrete Umstände festgestellt werden. (Rn. 20, 21)

Als solche kommen insbesondere Minderjährigkeit des Opfers oder krankheits- sowie intoxikations­bedingte Defizite in Frage. Der Selbsttötungs­entschluss kann auch dann mangelbehaftet sein, wenn er auf Zwang, Drohung oder Täuschung durch den Täter beruht. Dasselbe gilt, wenn er einer bloßen depressiven Augenblicksstimmung entspringt, mithin nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen ist.

bb) Gemessen hieran ist die auf rechts­fehlerfreien Feststellungen beruhende Wertung des Landgerichts nicht zu beanstanden, die Selbsttötungs­entschlüsse der beiden Frauen seien frei­verantwortlich gefasst gewesen. […]

cc) Von einem frei­verantwortlichen Willensentschluss der Frauen wäre auch unter Zugrundelegung der hierfür in der Literatur vertretenen Kriterien auszugehen. Die Frauen befanden sich nach den Feststellungen nicht in einem Zustand, der entsprechend §§ 19, 20, 35 StGB zu einem Verantwortlichkeits­ausschluss führen würde (sogenannte Exkulpations­lösung). Ihre Selbsttötungen waren das Resultat bilanzierender Reflexion, weswegen auch bei Heranziehung der Grundsätze der Einwilligung ein frei­verantwortlicher Entschluss vorlag; auch an der Ernstlichkeit ihres Todeswunsches (vgl. § 216 StGB) bestanden keine Zweifel (so – mit Differenzierungen im Detail – die sogenannte Einwilligungs­lösung). (Rn. 24, 25)

2. Ebenso mit Recht hat das Landgericht angenommen, dass eine Bestrafung des A wegen vollendeter Tötung durch Unterlassen schon aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht kommt. Denn das Unterlassen von Rettungs­handlungen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Frauen durch den A war für deren Tod nicht kausal. Ursächlichkeit liegt bei den (unechten) Unterlassungs­delikten vor, wenn bei Vornahme der pflichtgemäßen Handlung der tatbestandsmäßige Schadenserfolg mit dem für die Bildung der richterlichen Überzeugung erforderlichen Beweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. Der Nachweis, dass der Tod bei sofortiger Einleitung ärztlicher Rettungs­maßnahmen hätte verhindert oder hinausgeschoben werden können, ist nicht erbracht. Denn nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen schliefen die Frauen „kurze Zeit“ nach der Medikamenteneinnahme ein. Ab diesem Zeitpunkt war die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Rettung „äußerst gering“. (Rn. 26, 27, 28)

3. Der A hat sich auch nicht wegen eines versuchten Tötungs­delikts durch Unterlassen strafbar gemacht, da ihn keine Garantenstellung für das Leben der beiden Frauen traf und dies auch seiner Vorstellung entsprach. 

 a) Eine versuchte Tötung durch Unterlassen kann nach §13 Abs.1 StGB nur begehen, wer nach seiner Vorstellung rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt; zudem muss das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entsprechen. Die Gleichstellung des Unterlassens mit dem aktiven Tun setzt voraus, dass der Täter als „Garant“ zur Abwendung des tatbestandlichen Erfolges verpflichtet ist. Der eine Garantenstellung schaffende besondere Rechts­grund kann seinen Ursprung etwa in Rechts­normen, besonderen Vertrauens­verhältnissen oder vorangegangenem gefährlichen Tun finden. Verbindendes Element sämtlicher Entstehungs­gründe ist dabei stets die Überantwortung einer besonderen Schutz­funktion für das betroffene Rechts­gut an den Obhuts- oder Überwachungs­pflichtigen. (Rn. 30)

b) Der A war nicht kraft Übernahme der ärztlichen Behandlung für das Leben der beiden Frauen verantwortlich. Denn es bestand zwischen den Beteiligten kein Arzt-Patientinnen-Verhältnis. Mit den Suizidentinnen vereinbart war lediglich, sie bei ihrem Sterben zu begleiten; eine Beschützergarantenstellung für ihr Leben oblag ihm daher nicht. (Rn. 31)

c) Der A hat auch keine Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichen Tun (Ingerenz). Eine solche setzt ein pflichtwidriges – auch mittelbares – Schaffen einer Gefahr voraus. (Rn. 32)

aa) Das Überlassen der Medikamente kommt als Anknüpfungs­punkt insofern nicht in Betracht. Denn das Landgericht hat nicht festzustellen vermocht, dass der A sie den Frauen zur Verfügung gestellt hat, er auf diese Weise mithin eine Gefahrenquelle für beider Leben geschaffen hat. (Rn. 33)

bb) Die Erstellung der Gutachten über die aus psychiatrischer Sicht bestehende Einsichts- und Urteils­fähigkeit der beiden Frauen führt nicht zur Begründung einer Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichem Tun. Denn dieses Handeln war nicht pflichtwidrig. (Rn. 34)

(1) Eine Pflichtwidrigkeit des Vor­verhaltens des A ergab sich weder aus § 1 Abs.1 BÄO noch aus dem ärztlichen Standesrecht. (Rn. 35)

[…]

(2) Ein Pflichtwidrigkeits­urteil kann auch nicht aus dem durch das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung mit Wirkung vom 10.12.2015 in das Strafgesetzbuch eingefügten Straftatbestand des §217 StGB abgeleitet werden. Zwar hat der Gesetzgeber damit zum Ausdruck gebracht, dass er das geschäftsmäßige Verschaffen der Gelegenheit zur Selbsttötung, wie es der A durch seine regelmäßige Erstellung der von Sterbehilfe­organisationen vorausgesetzten Gutachten der vorliegenden Art erbracht hat, als strafwürdig und damit auch als pflichtwidrig erachtet. Diese Norm kann freilich bereits aufgrund der vor ihrem Inkrafttreten liegenden Tatzeit die Pflichtwidrigkeit des Vor­verhaltens des A nicht begründen (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 1, 2 StGB). (Rn. 40)

(3) Auch die weiteren durch das Landgericht festgestellten aktiven Beiträge des A, wie insbesondere die beratende Tätigkeit am Todestag sowie die Hilfe beim Zerkleinern und Auflösen der Tabletten, erfüllen nach dem oben Gesagten nicht die Voraussetzungen eines pflichtwidrigen Vor­verhaltens. Da die Frauen nach den Feststellungen des Landgerichts schon vor der beratenden Tätigkeit des A zum Selbstmord durch die Einnahme der Tabletten entschlossen waren, bestehen bereits Zweifel daran, ob dieses Vor­verhalten des A überhaupt die Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs begründete oder erhöhte. Jedenfalls haben die Frauen im Anschluss hieran die Tabletten frei­verantwortlich selbst eingenommen, so dass das Risiko für die Verwirklichung der durch das Vor­verhalten des A gegebenenfalls erhöhten Gefahr allein in ihrem Verantwortungs­bereich lag. […]

4. Das Landgericht hat schließlich eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) zutreffend verneint. (Rn. 43 f.)

a) […] Ungeachtet der durch den Bundes­gerichtshof in der Vergangenheit vorgenommenen Bewertung der Selbsttötung als Verstoß gegen das Sittengesetz, stellt die mit einem Suizid verbundene Zerstörung des grundrechtlich geschützten Rechts­guts Leben – von gravierenden Ausnahmefällen abgesehen – bei natürlicher Betrachtung einen Unglücksfall im Rechts­sinn dar. Anders als bei den dem Individualschutz dienenden Tötungs- oder Körperverletzungs­delikten schließt die aus dem Selbst­bestimmungs­recht fließende Einsichts- und Urteils­fähigkeit des Suizidenten das der Vorschrift des § 323c StGB auch zugrundeliegende Erfordernis menschlicher Solidarität nicht aus. Deshalb stellt die Annahme eines Suizids als Unglücksfall auch keinen Widerspruch zur Straflosigkeit des Teilnehmers an einer Selbsttötung dar.

b) Dem A war aber nicht zuzumuten, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Frauen Rettungs­maßnahmen zu ergreifen. Damit hat er den Tatbestand des § 323c StGB nicht erfüllt. Soweit Maßnahmen zur Lebens­rettung der bewusstlosen Frauen in Betracht kamen, befand sich der A in einer für ihn unauflöslichen Konfliktsituation zwischen der aus § 323c Abs. 1 StGB erwachsenden allgemeinen Hilfspflicht und der Pflicht, das im allgemeinen Persönlichkeits­recht verbürgte Selbst­bestimmungs­recht der Frauen zu achten. […]“

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