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BGH, Urt. v. 3.07.2019 – 5 StR 393/18: Zur Strafbarkeit eines Arztes bei frei­verantwortlichem Suizid seines Patienten (2)

Leitsatz: Die Garantenstellung des Arztes für das Leben seines Patienten endet, wenn er vereinbarungs­gemäß nur noch dessen frei­verantwortlichen Suizid begleitet.

Sachverhalt:

D litt seit ihrem sechzehnten Lebens­jahr an mehreren nicht lebens­bedrohlichen, aber starke krampfartige Schmerzen verursachenden Reiz-Darm Syndrom, für welche auch nach Ausschöpfung zahlreicher klassischer und alternativer Behandlungs­methoden keine Besserung eintrat. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes war sie, jedenfalls in der Zeit vor ihrem Tod reaktiv depressiv und hatte bereits mehrfach Suizidversuche unter­nommen und sich intensiv mit dem Thema Tod auseinandergesetzt. Da ihr das Leben unter diesen Umständen nicht mehr lebens­wert erschien, wandte sich die D am 8. Februar an ihren Hausarzt, den Angekl. A, mit der Bitte, sie bei ihrer Selbsttötung zu unter­stützen. A, dem die lange Kranken- und Leidensgeschichte, sowie die erfolglosen Therapieversuche der D bekannt waren, war der Über­zeugung, seine langjährige Patientin in einer solchen Situation nicht alleine lassen zu können und übergab der D am 15. Februar ein tödliche Medikamentl. Bei seinem letzten Besuch traf er die D zwar tief verzweifelt, aber aus seiner Sicht voll geschäfts­fähig an. D gab A ihre Wohnungs­schlüssel und bat diesen, sie nach der Einnahme der Tabletten zu betreuen und den Leichenbeschauschein auszufüllen. Weder A noch D war bekannt, über welchen exakten Zeitraum sich der Sterbeprozess erstrecken würde; sie gingen jedoch davon aus, dass dem Tod eine komatöse Phase vorausgehen würde.

Am folgenden Tag nahm die D bei klarem Verstand und vollem Bewusstsein eine tödliche Menge des Medikaments ein und informierte, wie zuvor vereinbart, A per Kurznachricht. Dieser begab sich kurze Zeit später zur Wohnung der D und fand diese in tief komatösem Zustand in ihrem Bett vor. A, der sich dem Sterbewunsch der D verpflichtet fühlte, unter­nahm keine Rettungs­versuche sondern prüfte lediglich Puls, Pupillenreflex und Atmung. Er suchte D noch einmal am Abend desselben Tages, sowie jeweils zu drei Zeitpunkten am 17. und 18. Februar auf. Bei den beiden letzten Besuchen befand sich D bereits in einem präfinalen Zustand. Während einer dieser Besuche, verabreichte A der D ein weiteres krampflösendes Medikament um sicherzustellen, dass es nicht zu unnötigen Schmerzen bei D komme.

Am 19. Februar gegen 4.30 Uhr stellte A den Tod der D fest. Ob die Verstorbene nach der Einnahme des tödlichen Medikaments bei sofortiger medizinischer Behandlung noch hätte gerettet werden können, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen.

Das LG hat eine Strafbarkeit des Angekl. Unter sämtlich in Betracht kommenden Gesichtspunkten jeweils aus rechtlichen Gründen verneint.

Die hiergegen gerichtete Revision der Staats­anwaltschaft ist unbegründet. Der Freispruch des Angekl. hält rechtlicher Über­prüfung stand.

Aus den Gründen:

1. A hat sich nicht wegen eines vollendeten Tötungs­deliktes durch aktives Tun (§ 212 Abs. 1 StGB oder § 216 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. Der im Verschaffen des Zugangs zu den todbringenden Medikamenten liegende Tatbeitrag des Angeklagten stellt sich bei der gebotenen normativen Betrachtung als straflose Hilfeleistung zur eigen­verantwortlich verwirklichten Selbsttötung der D dar.

Für die Abgrenzung einer straflosen Beihilfe zur Selbsttötung von der täterschaft­lichen Tötung eines Anderen ist maßgeblich, wer in Vollzug des Gesamtplans die Herrschaft über das zum Tode führende Geschehen ausübt. Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. (Rn. 13) Letzteres ist hier der Fall.

Auch nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft kann dem A die Selbsttötung nicht zugerechnet werden.

Eine Benutzung des Suizidenten als „Werkzeug“ gegen sich selbst kann unter anderem gegeben sein, wenn dieser seinen Selbsttötungs­entschluss aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeits­defizits nicht frei­verantwortlich gebildet hat. Befindet sich der Suizident in einer vom „Suizidhelfer“ erkannten, eine die freie Willensbildung ausschließende Lage, kann sich das Verschaffen der Möglichkeit des Suizids als in mittelbarer Täterschaft begangenes Tötungs­delikt darstellen. (Rn. 16)

Frei­verantwortlich ist dagegen ein Selbsttötungs­entschluss, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteils­fähigkeit für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des Entschlusses gegeben sind. Konkrete Umstände, die eine Frei­verantwortlichkeit des Suizidenten ausschließen, können insbesondere Minderjährigkeit des Opfers sowie krankheits- oder intoxikations­bedingte Defizite sein. Ebenso kann der Selbsttötungs­entschluss mangelbehaftet sein, wenn er auf Zwang, Drohung oder Täuschung durch den Täter beruht. Dasselbe gilt, wenn er einer bloßen depressiven Augenblicksstimmung entspringt, mithin nicht von der erforderlichen inneren Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen ist. (Rn. 17)

Im vorliegenden Fall hatte D ihren Sterbewillen oder Wissens- oder Verantwortlichkeits­defizite frei­verantwortlich gebildet und umgesetzt. Dabei kann dahinstehen, ob für die Wertung der Frei­verantwortlichkeit allein die Anschauung des A genügt, da D jedenfalls auch gegenüber Angehörigen und Bekannten mehrfach über einen längere Zeitraum hinweg ihren Todeswunsch geäußert hat. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass D durch ihr fortwährendes körperliches Leiden im Zeitpunkt ihrer Selbsttötung aufgrund einer „tiefen Verzweiflung“ psychisch beeinträchtigt war. Allerdings fehlt es an Anhaltspunkten, die auf eine bloße „depressive Augenblicksstimmung“ hindeuten oder zu einer Aufhebung der Einsichts- und Urteils­fähigkeit der D hätten zwingen müssen. Vielmehr hatte D sich intensiv mit dem Thema Tod auseinandergesetzt und im Laufe der Jahre bereits mehrere Selbsttötungs­versuche unter­nommen. Ihr Entschluss beruhte mithin auf einer über die Zeit hinweg entwickelten und durch ihr Leiden bedingten „Lebens­müdigkeit“; sie hatte einen „langjährigen ernsthaften Todeswunsch. (Rn. 18 ff)

Nach Ansicht der Literatur ist für einen frei­verantwortlichen Suizidentschluss erforderlich, dass sich der Suizident nicht in einem die Verantwortung ausschließenden Zustand der §§ 19, 20, 35 StGB befindet. D war nach Ausschöpfung sämtlicher, auf Linderung ihrer Schmerzen gerichteter Therapien fest entschlossen, aus dem Leben zu scheiden, weil es ihr unter diesen Umständen nicht mehr lebens­wert erschien. Ein solcher „Bilanzselbstmord“ beruht auf rationaler Reflexion und ist durch eine durch Willensfestigkeit und Zielstrebigkeit geprägte innere Haltung gekennzeichnet und nach den Grundsätzen der Einwilligung als frei­verantwortlich zu werten. (Rn. 21)

2.Eine Strafbarkeit des A wegen Unter­lassen von Rettungs­bemühungen bei Auffinden der bewusstlos vorgefundenen Suizidentin kommt nicht in Betracht, da nicht festgestellt werden konnte, dass das Leben der Suizidentin durch alsbald nach der Einnahme von Tabletten eingeleitete Maßnahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können. (Rn. 24)

3. A hat sich auch nicht wegen versuchter Tötung durch Unter­lassen strafbar gemacht, denn er war nicht mehr Garant für das Leben von D.

Durch die Betreuung als Hausarzt und die Über­nahme ihrer ärztlichen Behandlung und des damit einhergehenden Vertrauens­verhältnisses befand sich A zwar zunächst in einer besonderen Schutz­position für Leib und Leben der D. Diese Pflichtenstellung endete jedoch spätestens als D ihren Sterbewunsch äußerte und diesen mit der Bitte verband, A solle sie nach der Einnahme der Tabletten zu Hause betreuen. Entsprechend dieser Vereinbarung oblag es ihm nur noch, als Sterbebegleiter etwaige Leiden oder Schmerzen während des Sterbens zu lindern oder zu verhindern. (Rn. 26)

Hierfür spricht zum einen die (Patienten-)Autonomie, die Entscheidungen über das Geschehenlassen des eigenen Sterbens umfasst. Aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeits­recht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) wird eine „Freiheit zur Krankheit“ abgeleitet, die es grundsätzlich einschließt, Heilbehandlungen auch dann abzulehnen, wenn sie lebens­wichtig und medizinisch angezeigt sind, selbst wenn ein solcher Entschluss aus medizinischen Gründen unvertretbar erscheint. Das Grundgesetz garantiert dem Individuum das Recht, in Bezug auf die eigene Person aus medizinischer Sicht Unvernünftiges zu tun und sachlich gebotenes zu unter­lassen. Jeder einwilligungs­fähige Kranke hat es danach in der Hand, eine lebens­rettende Behandlung zu unter­sagen und so über das eigene Leben zu verfügen. (Rn. 29)

Darüber hinausgehend gebietet es die Würde des Menschen, sein im einwilligungs­fähigem Zustand ausgeübtes Selbst­bestimmungs­recht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigen­verantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist. Dies wird durch die Regelung zur Patientenverfügung in § 1901a BGB deutlich gemacht, bei der der Gesetzgeber davon ausging, dass das Selbst­bestimmungs­recht des Menschen „das Recht zur Selbstgefährdung bis hin zur Selbstaufgabe und damit auch auf Ablehnung lebens­verlängernder Maßnahmen unabhängig von der ärztlichen Indikation der Behandlung“ einschließt (BT-Drucks. 16/8442, S. 8). (Rn. 30)

Aufgrund der Bedeutung des Selbst­bestimmungs­recht des Einzelnen, auch über Entscheidungen des eigenen Lebens, kann in Fällen des frei­verantwortlichen Suizids der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln. Da D ihren ernstlichen Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, ohne Wissens- oder Verantwortlichkeits­defizits frei­verantwortlich gebildet und umgesetzt hat und sich keine Hinweise auf eine Änderung ihres Sterbewillens ergeben, brauchte A Maßnahmen zu ihrer Rettung nicht zu ergreifen. (Rn. 34)

Gleiches gilt auch hinsichtlich einer Garantenstellung aus Ingerenz, insbesondere dem Verschaffen der Medikamente. Denn D hat im Anschluss hieran die Tabletten frei­verantwortlich selbst eingenommen, so dass das Risiko für die Verwirklichung der durch das Vor­verhalten des Angeklagten gegebenenfalls erhöhten Gefahr allein in ihrem Verantwortungs­bereich lag. (Rn. 35)

4.A hat sich auch nicht einer unter­lassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB schuldig gemacht. Ob es sich bei einer frei­verantwortlichen Selbsttötung, wie von der Rechts­prechung vertreten, um einen Unglücksfall im Sinne von § 323c Abs. 1 StGB handelt kann dahinstehen, da jedenfalls eine dem von D geäußerten Willen zuwiderlaufende Hilfeleistung durch A diesem nicht zumutbar ist. (Rn. 37)

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