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BGH, Beschluss v. 26.05.2020 – 2 StR 434/19:Zur mutmaßlichen Einwilligung bei einer Heilbehandlung

Sachverhalt:

A war als examinierte Pflegekraft in einem Altenpflegeheim tätig, in dem M – der an Lungenkrebs im Endstadium litt – aufgenommen wurde. Eine Heilung des Krebsleidens war ausgeschlossen. Sein Arzt rechnete mit seinem Ableben in den nächsten Stunden und Tagen. M litt unter starken Schmerzen. Aufgrund seiner Schmerzen verordnete sein Arzt „Morphin 5 mg, subkutan (maximal alle 4 Stunden)“. Es sollte nur dann verabreicht werden, wenn die übrigen Medikamente keine ausreichende schmerzstillende Wirkung mehr zeigten. Injiziertes Morphin wirkt nach etwa 20 Minuten schmerzlindernd, führt aber auch zu einer Verflachung der Atmung bis hin zu Atemaussetzern.

In der Nacht hatte der A Dienst, zusammen mit der Zeugin B. Gegen 22.30 klagte M über starke Schmerzen und verlangte eine schmerzstillende Spritze. M Injizierte dem Patienten – der ärztlichen Verordnung entsprechend – fünf Milligramm Morphin subkutan. Die verabreichte Menge wirkte wie beabsichtigt.

Gegen 6.00 Uhr klagte M erneut über Schmerzen. A entschied sich, erneut eine Spritze mit Morphin zu verabreichen. Bei der Vorbereitung der Spritze war die B zugegen. Beide wollten nicht sehen, wie er sich quälte und litt. Seinen offensichtlich schlechten Zustand und seine Schmerzen fanden sie – trotz ihrer Erfahrungen in der Pflege – schwer erträglich. Um in dieser belastenden Situation zu zeigen, dass er Verantwortung übernehme, fragte der A, ob er die ganze Ampulle verabreichen solle. Die B antwortete nicht. Weil sie nicht ‚nein‘ gesagt hatte, entschied der A, die gesamte Ampulle Morphin – also 10 mg – zu verabreichen.

Der A wollte die B in dieser Situation mit seiner Tatkraft beeindrucken. Dementsprechend war der Wille des M für den A nicht entscheidend. Er fragte diesmal nicht, ob M eine Spritze wolle. Erst recht fragte er nicht, ob er eine Spritze mit der doppelten Dosierung wolle. Auch den gesetzlichen Betreuer des Geschädigten befragte der A nicht. Das Schmerzempfinden des M ging diesmal stärker zurück als es bei der Verabreichung von fünf Milligramm der Fall gewesen wäre; aber auch die Atmung des M wurde stärker beeinträchtigt, was der A wusste und wollte. Gegenüber der B sagte er, „dass sie ihn nicht verpetzen solle und er ihn, also den M, nun ‚weggespritzt‘ habe.“ Gegen 9.30 Uhr verstarb der M an seinem Krebsleiden; die Morphininjektion um 6.00 Uhr war nicht todesursächlich.

 

Fraglich ist, ob in der Handlung des A eine Körperverletzung im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB zu sehen ist. Insbesondere könnte die Körperverletzung jedoch durch eine mutmaßliche Einwilligung des Tatopfers gerechtfertigt sein.

Zur mutmaßlichen Einwilligung

Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist stets als Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB zu bewerten, auch wenn er in heilender Absicht erfolgt. Selbst ein im Einklang mit den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommener Eingriff erfüllt den Straftatbestand. Er kann nur durch wirksam erklärte oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werden (Rn. 13).

Eine ausdrückliche Einwilligung in die konkrete Handlung des A ist im vorliegenden Fall nicht erklärt worden. Eine mutmaßliche Einwilligung kommt in Betracht, wenn eine ausdrückliche Einwilligung aufgrund vorübergehender Einwilligungs­un­fähigkeit nicht oder nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Eine mutmaßliche Einwilligung ist nach der Gesamtschau aller Umstände zu prüfen (Rn. 15).

Beim Sterben eines unheilbar Kranken, dem unmittelbar vor dem Tod nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann, besteht eine besondere Ausnahmesituation. Tritt deshalb der Gesichtspunkt des Handelns aufgrund einer ärztlichen Verordnung in den Hintergrund, schließt die Eigenschaft des Handelnden als Nichtarzt oder sein Handeln unter Abweichung von einer ärztlichen Anordnung die Rechtfertigung einer Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung nicht zwingend aus. Es ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände, die für den mutmaßlichen Patientenwillen von Bedeutung sind, vorzunehmen. Im Hinblick auf das Selbst­bestimmungs­recht des Patienten ist der Inhalt seines Willens aus seinen persönlichen Umständen, individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln (Rn. 17).

Hinweise dafür können etwa Gespräche des Geschädigten mit seinem Betreuer oder Pfleger liefern. Weitere Indizien können sich aus dem Verhalten des Patienten ergeben. Die Beachtung ärztlicher Anordnungen gehört im Regelfall ebenfalls zu dem, was als gemeinhin vernünftig anzusehen ist. Jedoch kann beim eigentlichen Sterbevorgang unmittelbar vor dem Tod auch die Schmerzbekämpfung mit allen verfügbaren und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Mitteln als vernünftig und deshalb dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechend anzusehen sein. Bei der Gesamtwürdigung ist überdies in den Blick zu nehmen, wie nah der Patient dem Tode war (Rn. 18)

Zum Rechtfertigungs­wille

Eine mutmaßliche Einwilligung scheidet auch nicht schon ohne Weiteres aus, wenn der Angeklagte wie im vorliegenden Fall – auch – aus einem anderen Motiv gehandelt hat, nämlich um die A durch seine Entschlossenheit zu beeindrucken. Tritt ein anderes Motiv zu einem auch vorhandenen Willen, im Einklang mit dem mutmaßlichen Patientenwillen zu handeln hinzu, steht dieser neue Beweggrund der Annahme eines subjektiven Rechtfertigungs­willens nur dann entgegen, wenn dieses hierdurch völlig in den Hintergrund gedrängt wird (Rn. 20)

Ergebnis: Damit ist die Revision begründet. Das LG hat fehlerhaft die Prüfung einer mutmaßlichen Einwilligung unterlassen.

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