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BGH, Beschl. v. 5.05.2021 – 4 StR 19/20: Zur objektiven Zurechnung bei sog. Berufsretterfällen

Leitsatz: Dem Täter eines fahrlässig herbeigeführten Brand- oder Explosionsgeschehens können der durch Rettungs­maßnahmen verursachte Tod oder die Körperverletzung von Berufsrettern zugerechnet werden (im Anschluss an BGHSt 39, 222).

Sachverhalt:
A hatte als Arbeiter eines Sub­unter­nehmens seit dem 13. Oktober 2016 auf dem Werksgelände der BASF SE Dehnungs­bögen einer zu erneuernden Rohrleitung abzubauen, die mit anderen Leitungen in einem Rohrgraben am Betriebs­hafen verlief. Dazu musste er das Metallrohr der für die Dauer der Arbeiten stillgelegten Leitung mit einem Trennschleifer zerlegen. Am Morgen des 17. Oktober 2016 gaben zwei Mitarbeiter wie gewöhnlich die Arbeiten frei und kennzeichneten die Rohrleitung mit Markierungen. Im Verlauf des Arbeits­tages war A selbst dafür verantwortlich, die zu bearbeitende Leitung als solche zu identifizieren; dies war ihm auch aufgrund der Markierungen möglich. Trotzdem vertauschte A versehentlich die betreffende Leitung mit einer gasführenden Rohrleitung. Das durch den Schnitt mit dem Trennschleifer austretende Gas entzündete sich an den Funken des Trennschleifers. Die Stichflamme erhitzte die Umgebung, dar­unter eine unter Druck stehende Fernleitung, die brennbare Ethylen führte. Kurz darauf riss die die Fernleitung aufgrund der großen Hitze ab und löste sich aus der Verankerung. Dadurch entstanden zwei heftige Explosionen, deren zweite eine Feuerwalze auslöste. Durch Hitze und Druckwellen starben vier Feuerwehrleute der Werksfeuerwehr. Vier weitere Feuerwehrleute sowie zwei Werksmitarbeiter, die sich ebenfalls pflichtgemäß zur Brandstelle begeben hatten, um die Feuerwehr einzuweisen, wurden schwer verletzt. Zudem verstarb ein Matrose eines in unmittelbarer Nähe liegenden Tankschiffes, der durch die Druckwelle ins Hafenbecken geschleudert wurde. Die Feuerwehrleute und die beiden Werksmitarbeiter hatten den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von mindestens fünfzig Metern zur Brandstelle eingehalten. Jedoch war ihnen die äußere Erhitzung der Fernleitung und die daraus resultierende hohe Explosionsgefahr nicht bekannt, als sie sich der Brandstelle näherten.
Das LG hat A u.a. wegen tateinheitlicher fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Dies hält der rechtlichen Nach­prüfung statt.


Aus den Gründen:
„Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade diese Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat.“ (Rn. 11)
„Pflichtwidrig handelt, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt, die dem Schutz des beeinträchtigten Rechts­guts dient. Dabei bestimmen sich Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind.“ (Rn. 14)

Unerheblich ist, ob die Pflichtwidrigkeit durch aktives Tun oder Unter­lassen begangen wird. A hat objektiv seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem er versehentlich den Trennschleifer an der gasführenden Leitung ansetzte, obgleich es ihm möglich und er dazu verpflichtet war, das zu bearbeitende Rohr insbesondere anhand der Markierungen zu identifizieren. Auch war der Schnitt in die Gasleitung für den Eintritt des Todeserfolges und der Verletzungen der Opfer kausal.
Für die Vorhersehbarkeit reicht aus, dass A die Folgen seines Handelns in ihrem Ausmaß im Wesentlichen voraussehbar sind; er musste sie nicht in allen Einzelheiten voraussehen können. A, der langjährig auf dem Betriebs­gelände tätig war und das Gefahrenpotential der Anlagen kannte, konnte vorhersehen, dass seine Sorgfaltspflichtverletzung zu einer Explosion und diese zum Tod oder Verletzungen der im Umkreis befindlichen Menschen führen würde. Für die Zurechenbarkeit des Erfolges bedarf es neben der Vorhersehbarkeit des Erfolges eines Schutz­zweck- und Pflichtwidrigkeits­zusammenhangs. „Eine Zurechnung des Erfolgs ist nur möglich, wenn sich gerade die durch die mangelnde Sorgfalt des Täters gesetzte Gefahr im eingetretenen Erfolg realisiert hat und der Erfolg in den Schutz­bereich der Norm fällt.“ (Rn. 21)

Erfolge werden dann zugerechnet, wenn sie im Falle eines pflichtgemäßen Verhaltens des Täters ausgeblieben wären. Der Schutz­zweck der Pflichten des A umfasste den Erfolg, da sie gerade dazu dienen, Leib und Leben von Menschen auf dem Betriebs­gelände zu schützen. Bei pflichtgemäßen Handeln wäre der Unfall mit seinen Folgen mit Sicherheit vermieden worden. Die Zurechnung entfällt auch nicht aufgrund einer bewussten Selbstgefährdung. „Nach den Grundsätzen der bewussten Selbstgefährdung ist (…) ein Verletzungs­erfolg, insbesondere auch der Tod eines Menschen, einem Dritten, der dafür eine Ursache gesetzt hat, möglicherweise dann nicht zuzurechnen, wenn der Erfolg die Folge einer bewussten, eigen­verantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung ist und sich die Mit­wirkung des Dritten in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des Selbstgefährdungs­aktes erschöpft hat.“ (Rn. 24) Jedoch ist dieser Grundsatz nach der Rechts­prechung des BGH in solchen Fällen einzuschränken, in denen sich das Opfer durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage verpflichtet fühlt, rettend in das Geschehen einzugreifen und sich dabei selbst schädigt. „Dies gilt, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schafft, dass er ohne Mit­wirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechts­gut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründet und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungs­maßnahmen schafft.“ (Rn. 25)
„Dieser für die Konstellation eines freiwillig eingreifenden Dritten entwickelten Rechts­grundsatz ist auf die Zurechnung der Schäden solcher Personen übertragbar, die rechtlich aufgrund von Berufspflichten zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind und sich in Erfüllung dieser Rechts­pflicht selbst gefährden. Deren Tod oder Verletzung ist grundsätzlich demjenigen zuzurechnen, der die Gefahrenlage geschaffen hat.“ (Rn. 26) Anstelle des einsichtigen Motivs des freiwilligen Retters tritt beim berufsmäßigen Retter seine Rechts­pflicht zum Einschreiten, welche die Eigen­verantwortlichkeit der Entscheidung des Retters weiter einschränkt. Hinzu kommt, dass solche Retter aufgrund ihrer Fach­kompetenz und des damit verbundenen geringeren Verletzungs­risikos höhere Risiken infolge gefährlicher Rettungs­maßnahmen eingehen müssen. Da dem Täter auch eine erfolgreiche Rettungs­handlung zugute kommt, erscheint es konsequent, ihm auch Gefahren bei einem missglückten Rettungs­versuch zuzurechnen und den pflichtigen Retter in den Schutz­bereich der Straf­vorschriften miteinzubeziehen. Zudem kann keine eigen­verantwortliche Selbstgefährdung angenommen werden, wenn den betroffenen Rettern die volle Kenntnis des Risikos fehlt. Jene müssen sich weder das Wissen noch die Sorgfaltspflichtverletzungen anderer am Einsatz oder an dessen Vorbereitung beteiligter Personen zurechnen lassen.

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