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BGH, Beschl. v. 06.10.2021 – 6 StR 348/21: Zur Gegenwärtigkeit des Angriffs nach § 32 II StGB

Sachverhalt [Rn. 2–7]

Der später getötete G und sein Freund M verabredeten sich, dem Angekl. A eine Abreibung zu verpassen. Der G trug hierfür ein Cuttermesser bei sich; der M einen 15 cm langen Schraubenzieher. Sie begaben sich erheblich alkoholisiert und in aggressiver Stimmung zur Wohnung der Freundin des A, in der sich A und der 5-jährige Sohn der Freundin befanden.

Als A die Wohnungs­tür öffnete, forderten die Angreifer ihn auf, aus der Wohnung zu kommen. Der A schloss jedoch die Türe wieder von innen. Daraufhin traten G und M gegen die Türe und M schlugen auch mit dem Schraubenzieher auf die Tür ein. Aus Angst, G und M könnten die Türe aufbrechen, bewaffnete sich A mit einem langen Küchenmesser.

Anschließend öffnete er wieder die Wohnungs­türe und stach G wuchtig in den Oberbauch. Im Anschluss stach er dem M in den Rücken, da dieser sich bereits Richtung Treppenhaus abgewandt hatte. Dem A war während der Handlung nicht bewusst, dass der G mit einem Cuttermesser bewaffnet war. Ihm ging es darum, die aggressiv auftretenden Männer zum eigenen Schutz und zum Schutz des Kindes zu verletzen und dadurch zu vertreiben. G verstarb wenig später an den Folgen des Stichs. Bei M bestand keine akute Lebens­gefahr und die Verletzung verheilte folgenlos.

Zur Gegenwärtigkeit des Angriffs, § 32 II StGB [Rn. 8–15]

Entscheidend für die Beurteilung der Tat des Angeklagten ist, ob zum Zeitpunkt des Tatentschlusses noch ein gegenwärtiger rechts­widriger Angriff nach § 32 II StGB vorlag. Nur dann kann sich der Angeklagte auf den Rechtfertigungs­grund der Notwehr berufen.

Nach ständiger Rechts­prechung entscheidet über die Gegenwärtigkeit des Angriffs nicht erst die Vornahme der Verletzungs­handlung, sondern bereits der Zeitpunkt der durch den bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 1972 – 1 StR 489/72). Es genügt ein Verhalten, das unmittelbar in die eigentliche Verletzungs­handlung umschlagen soll; bei einem vorsätzlichen Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert ist (vgl. BGH, Urteile vom 7. November 1972 – 1 StR 489/72).

Das LG hat dazu ausgeführt, dass nach dem Schließen der Wohnungs­tür sowohl objektiv als auch aus Sicht des Angeklagten keine konkrete Gefahr mehr bestanden habe. Damit sei eine Rechtfertigung durch Notwehr abzulehnen.

Dem steht jedoch entgegen, dass das Ziel der Angreifer durchgehend die Verletzung des Angeklagten war. Zudem ist nicht hinreichend belegt, dass die Türe dem Angriff standhalten konnte. Daneben ist zu berücksichtigen, dass sich der Angeklagte verängstigt und um das Wohl des Kindes besorgt war. Er musste sich somit durch die geschlossene Türe nicht sicher fühlen.

Unabhängig davon stand jedenfalls im Zeitpunkt der Messerstiche ein rechts­widriger Angriff noch unmittelbar bevor. Die Angreifer standen nur einen Schritt vom Angeklagten entfernt und waren mit gefährlichen Werkzeugen bewaffnet und bestrebt, den Angeklagten an Leib und Leben zu verletzen.

 Ergebnis

Das Urteil des Landgerichts wird aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

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