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BGH, Urt. v. 31.03.2021 – 2 StR 109/20: Zur Garantenstellung unter Geschwistern

Sachverhalt: (Rn. 3 – 7)

A und W sind Eltern der E und J (beide zum Tatzeitpunkt volljährig). Bei J wurde unter anderem Diabetes Typ I diagnostiziert. A und W kannten sich mit der Krankheit aus.

Nachdem der am Oberarm eingesetzte Sensor zur Blutzuckermessung nicht ordnungs­gemäß von A ausgetauscht wurde, kam es zu einer Stoffwechselentgleisung durch Insulinmangel.  J wurde zwar Insulin gespritzt. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich jedoch dramatisch, sodass sie nicht einmal mehr ins Obergeschoss laufen konnte und im Wohnzimmer übernachteten musste. Die Familie kümmerte sich zwar um sie und war bis auf W, der tagsüber im nahe gelegenen Familien­unter­nehmen arbeitete, im Haus, rief jedoch keinen Arzt. J lag abends in den Armen der Schwester E, die den Puls prüfte, als der Atem aussetzte. J starb. Erst danach tätigte W einen Notruf. J hätte durch Hinzuziehen eines Arztes noch bis in die Abendstunden gerettet werden können. Die Symptome der Stoffwechselentgleisung waren auch für Laien mindestens über einen Zeitraum von 12 Stunden vor dem Tod erkennbar.

Aus den Gründen:

A und W wurden jeweils wegen fahrlässiger Tötung durch Unter­lassen verurteilt und E vom Vorwurf der unter­lassenen Hilfeleistung freigesprochen. (Rn. 1)

Zu A und W:

In rechtlicher Hinsicht ist nach ständiger Rechts­prechung des Bundes­gerichtshofs bedingter Tötungs­vorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Verhaltens erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des angestrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten. Diese Grundsätze gelten auch für Unter­lassungs­taten. (Rn. 12)

Eine hohe Lebens­gefährlichkeit des Verhaltens stellt regelmäßig ein wichtiges auf (Eventual-)Vorsatz hinweisendes Beweiszeichen dar. Sofern der Täter auf das Ausbleiben eines Erfolges vertraut, muss dies tatsachen­basiert sein. Des Weiteren kommt den Motiven der Tat bei der Abgrenzung bedingter Vorsatz – bewusste Fahrlässigkeit nur unter bestimmten Umständen Bedeutung zu. Dabei müssen die für und gegen einen Tötungs­vorsatz sprechenden Tatsachen in einer Gesamtschaut gewürdigt werden, was sich aus dem Urteil ergeben muss. Dem ist vorliegend nicht so. (Rn. 13 f.)

Zu E:

Auch hier fehlt eine Begründung für den Freispruch.

Zudem hätte auch in den Blick genommen werden müssen, dass nicht nur ein Unter­lassen im Hinblick auf den tödlichen Verlauf, sondern auch der sich bereits verschlechternde Gesundheitszustand der Schwester geraume Zeit vor dem Eintritt des Todes ein Auslöser für eine Handlungs­pflicht im Sinne des § 323c StGB gewesen sein könnte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn keine Gewähr für sofortige anderweitige Hilfe bestanden hat. (Rn. 17)

Hinweise des Senats für die neue Verhandlung:

  • Für W und A kommt auch § 227 StGB in Betracht. Eine vorsätzliche Körperverletzung kann dabei durch einen Garanten verwirklicht werden, wenn er den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges trotz vorhandener Möglichkeit dazu pflichtwidrig nicht abwendet. Ein von § 223 I StGB erfasster Erfolg in Gestalt einer Gesundheitsschädigung kann bereits darin liegen, dass bei einem behandlungs­bedürftigen Zustand einer Person die gebotene ärztliche Versorgung nicht bewirkt wird. Die Möglichkeit sodann auch § 227 StGB durch Unter­lassen zu verwirklichen, ist in der Rechts­prechung anerkannt. (Rn. 22)
  • Für E muss auch die Möglichkeit einer Garantenstellung für ein unechtes Unter­lassungs­delikt geprüft werden. Diese kann sich aus der tatsächlichen Über­nahme einer Schutz­funktion ergeben. Dies kommt etwa in Betracht, wenn sie ausdrücklich oder konkludent die Über­nahme von Verantwortung erklärt, diese zusätzlich neben den in erster Linie verantwortlichen Eltern übernommen und sich insoweit auch ihr Vorsatz auf das Bestehen einer Rechts­pflicht zum Handeln erstreckt hätte. Nicht in jedem Handeln von E, das ihrer Schwester im Vorfeld oder während der akuten gesundheitlichen Krise zugutegekommen ist, kann eine im Sinne von § 13 I StGB relevante Über­nahme von Verantwortung gesehen werden. Allein daraus, dass jemand einem Hilfsbedürftigen beisteht, folgt noch keine Garantenpflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung. Eine mit Rechts­wirkung versehene Über­nahme von Verantwortung durch E wäre auch abzugrenzen von einer bloßen Unter­stützung der Mutter und von einfacher Zuwendung gegenüber der Schwester. Ob und in welchem Umfang E, sollte eine von den Eltern unabhängige Garantenstellung nicht begründet worden sein, in bestimmten Situationen anstelle der Eltern für diese in die ihnen obliegende Garantenpflicht eingetreten ist, bestimmt sich gegebenenfalls nach den in der Familie hierzu ausdrücklich oder konkludent getroffenen Absprachen über die Betreuung und Beaufsichtigung von J. (Rn. 23 – 27)

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