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BGH, Beschl. v.  29.03.2023 – 2 StR 147/21 – Rücktritt vom versuchten Totschlag

Sachverhalt

Der Angeklagte verließ – ebenso die ihm nicht näher bekannten Nebenkläger K. und P. sowie die Zeugen J. und N. – in den frühen Morgenstunden eine Gaststätte. Am nahegelegenen Taxistand kam es  zu einer Diskussion zwischen dem Angeklagten und K. , in deren Verlauf  sich die beiden zunächst gegenseitig schubsten sowie hin- und herschoben.

Sodann zog der Angeklagte ein mitgeführtes Klappmesser mit einer Klingenlänge von neun Zentimetern und stach damit sechs Mal auf den Oberkörper  des Nebenklägers ein, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Der Nebenkläger P., der auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden war, jedoch  das Messer des Angeklagten nicht wahrgenommen hatte, trat zwischen die beiden und drückte sie auseinander. Auch der Zeuge N. kam hinzu und stieß den  Angeklagten weg, so dass dieser zu Boden fiel. Der schwer verletzte K schleppte sich in der Zwischenzeit einige Meter vom Ort des Geschehens fort.

Nachdem der Angeklagte wieder aufgestanden war, stach er unvermittelt drei Mal mit Tötungs­vorsatz auf den Oberkörper des P. ein. Der in der Nähe befindliche Zeuge J., der wahrnahm, dass sich der Nebenkläger vor Schmerzen krümmte, nicht jedoch ein Messer beim Angeklagten erkannte, wollte eingreifen, jedoch stach ihn der Angeklagte sogleich in Verletzungs­absicht in den linken Oberarm. Hierauf entfernte sich J., wurde jedoch vom Angeklagten verfolgt, der dabei rief: „Ich stech´ euch alle ab!“. Zwischenzeitlich verbrachte der  Zeuge N. den verletzten Nebenkläger P. auf die andere Straßenseite.

Während der Verfolgung des Zeugen J. traf der Angeklagte noch in der  Nähe der Gaststätte auf den Zeugen Po. Dieser redete beschwichtigend auf  den Angeklagten ein und konnte ihn dazu bewegen, von weiteren Angriffen abzusehen. Das gesamte Geschehen dauerte nur wenige Minuten, der Angeklagte konnte bereits kurze Zeit nach Beginn der Auseinandersetzung von alarmierten  Polizeibeamten festgenommen werden. Er wies zur Tatzeit eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,42 Promille auf, weswegen das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungs­fähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen vermochte.

Das LG hat die Tat als gefährliche Körperverletzung in drei Fällen (K, P, J), davon in zwei Fällen (K,P) in Tateinheit mit versuchtem Totschlag gewertet. Von den versuchten Tötungs­delikten sei der Angeklagte nicht durch bloßes Aufgeben der Tat strafbefreiend zurückgetreten, „da er nicht freiwillig die weitere Tatausführung aufgab, sondern durch das Einschreiten des Zeugen P bzw. der Zeugen N und J „daran gehindert wurde, weiter auf die“ Tatopfer „einzustechen“.

Der BGH sieht die Ablehnung eines strafbefreienden Rücktritts gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 1. Alt. StGB als rechts­fehlerhaft an.

Aus den Gründen

Wegen Versuchs wird nach § 24 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative StGB nicht bestraft, „wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt. Voraussetzung ist zunächst, dass der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnet (unbeendeter Versuch), seine Herbeiführung aber noch für möglich hält.“ (Rn. 9)

„Scheitert – wie vorliegend – der Versuch, so kommt es darauf an, ob der Täter nach anfänglichem Misslingen des vorgestellten Tatablaufs sogleich zu der Annahme gelangt, er könne ohne zeitliche Zäsur mit den bereits eingesetzten oder bereitstehenden Mitteln die Tat noch vollenden. Nur dann liegt kein fehlgeschlagener, sondern ein unbeendeter Versuch vor, von dem der Täter noch durch freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung zurücktreten kann. Maßgebend ist dabei das subjektive Vorstellungs­bild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungs­handlung (sog. „Rücktrittshorizont) (…) und zwar selbst dann, wenn diese auf einer Fehlvorstellung beruht (…) oder wenn der Täter nach der Tatausführung Umstände erkennt, die seine bisherigen Vorstellungen erschüttern ((..) sog. „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ (…)).“ (Rn.9)

Bei einem – wie hier – mehraktigen Geschehen, „innerhalb dessen der Täter verschiedene Handlungen vornimmt, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlichen Erfolgs gerichtet sind, kommt es auf das subjektive Vorstellungs­bild des Täters nach jedem Einzelakt an“. (Rn. 9)

„Bilden jedoch die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen“ (Rn. 9) – wie hier (wenige Minuten, an einer überschaubaren Örtlichkeit, Ausruf des Angeklagten, er werde alle „abstechen“) -, „so ist für die Bestimmung des Rücktrittshorizonts allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungs­handlung maßgeblich (…)“ (Rn. 9)

Das Landgericht hätte sich im vorliegenden Fall „nicht mit der (objektiven) Feststellung begnügen dürfen, die Tatopfer seien vom Angeklagten weggezogen worden“ (Rn. 11). Die festgestellte objektive Sachlage gestattet keine sicheren Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters (Rn. 10).

Zudem kann ein strafbefreiender Rücktritt auch nicht deswegen ausgeschlossen werden, „weil sich der Angeklagte von den zunächst angegriffenen Nebenklägern ab- und einem jeweils Dazwischentretenden zuwandte und diesen angriff.  So lange der Täter mit dem Versuch der Tatbegehung lediglich innehält, also keinen Entschluss zum endgültigen Verzicht auf deren Durchführung getroffen hat, weil er (zunächst) ein anderes Tatziel erreichen will, ist die Tat noch nicht aufgegeben (…). Eine solche Konstellation ist hier mit Blick auf den Ausruf des Angeklagten, er werde alle „abstechen“, nicht gänzlich ausgeschlossen.“ (Rn. 12) „Allein das körperliche Trennen des Täters von dem Tatopfer durch einen Dritten (…) schließt einen strafbefreienden Rücktritt nicht aus.“ (Rn. 11)

Der Umstand, „dass sich der Nebenkläger K. während des Geschehens weggeschleppt hatte und der Nebenkläger P. auf die andere Straßenseite gebracht worden war, lässt keine sicheren Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Angeklagten zu. Denn das Landgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob der Angeklagte dies überhaupt wahrnahm und er folglich davon ausgehen musste, sein Tatziel mit den vorgestellten Mitteln nicht mehr erreichen zu können.“ (Rn. 13)

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