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BGH, Beschl. v. 29.03.2023 – 2 StR 252/21: Zur Rechtfertigung durch Notwehr

Sachverhalt:

 Das spätere Tatopfer O hatte die Absicht, dem Angeklagten und dessen Brüdern seine bereits zurückliegende Beziehung zu deren Schwester und die von dieser durchgeführten Schwangerschafts­abbrüche zu offenbaren. Hierzu versandte er am 6. März 2020 Sprachnachrichten, in denen er äußerte, er wolle sich mit den Brüdern treffen und reden; dabei beleidigte er G. und die Familie des Angeklagten. Es wurde ein Treffpunkt verabredet. Der Angeklagte fuhr zum Treffpunkt mit seinem Pkw, aus dem er ein zweiseitig geschliffenes Messer mit einer Klingenlänge von 14,5 cm und einer Klingenbreite von 4,5 cm ergriff und sich „bei der für ihn unklaren Situation spontan dazu“ entschloss, dieses samt Holster in seine Jackentasche zu stecken. O war seit dem Abend des 6. März 2020 mit einem Freund in Gaststätten unterwegs und konsumierte alkoholische Getränke. O begab sich in eine Gaststätte, die er gegen 3:00 Uhr verließ. Der Angeklagte und O trafen sich gegen 3:40 Uhr in einer Unterführung und gingen gemeinsam stadtauswärts. Nachdem beide vor einem Haus angehalten hatten, berichtete O von seiner Beziehung zu G, die er eine Hure nannte, und von deren Abtreibungen, wobei er einen sehr aggressiven und lauten Ton hatte. Obwohl der Angeklagte den O aufforderte, ruhiger zu werden und die Beleidigungen zu unterlassen, kam dieser dem Angeklagten mit aggressiver Körpersprache näher, wobei er seine Hand geöffnet in Richtung des Angeklagten hielt. Der Aufforderung des Angeklagten, ein paar Schritte zurückzugehen, kam O. zunächst nach, „näherte sich dem Angeklagten dann aber erneut in Unterschreitung des von diesem geforderten Mindest­abstands“. Der Angeklagte stieß O. mehrfach von sich weg, dieser näherte sich jedoch immer wieder, wobei er nunmehr die ganze Familie des Angeklagten beleidigte und äußerte, „er werde den Angeklagten und alle anderen aus dessen Familie ‚ficken‘“, er werde den Angeklagten „fertig machen“. Abermals kam O auf den Angeklagten zu und „drückte seinen Kopf an den des Angeklagten und diesen leicht nach hinten“. Der Angeklagte war verärgert und „nervlich angespannt“, er fühlte sich bedrängt. Durch den Kopf-an-Kopf-Kontakt „wurde es dem Angeklagten schließlich zu viel“ und er schlug O mit seiner rechten Faust ins Gesicht, der daraufhin zunächst ein paar Schritte zurückwich, sodann aber um den Angeklagten herumging und erneut äußerte, er werde den Angeklagten „jetzt ficken“. Der Angeklagte, stand mit dem Rücken zur Hauswand, O stand vor ihm und bewegte sich wieder in Richtung des Angeklagten. Nunmehr holte der Angeklagte das in der Jackentasche mitgeführte Messer heraus und hielt es in Richtung O, „um diesen abzuschrecken und auf Distanz zu halten“. Während der Angeklagte mit dem Messer in Richtung des O. „fuchtelte“, forderte er ihn auf, aufzuhören und „sich zu verpissen“. O. kam „gleichwohl auf den Angeklagten zu, diesmal mit geballten und ca. auf Brusthöhe erhobenen Fäusten, woraufhin der Angeklagte ihn mit seiner linken Hand ein weiteres Mal wegschubste, während er die rechte Hand mit dem Messer leicht zurückzog, um O. nicht zu verletzen.“ Dies hielt O. nicht lange ab, er ging ein weiteres Mal auf den Angeklagten zu, um diesen nunmehr zu verletzen. Er hatte „hierbei seine linke Hand wieder in die linke Jackentasche gesteckt, weshalb der Angeklagte glaubte, in dieser müsse er etwas haben, da er ansonsten nicht die Hand in die Jackentasche stecken würde. Eine Waffe hatte der Angeklagte […] indes nicht wahrgenommen, was für ihn nicht ausschloss, dass er – wie er selbst – eine solche, naheliegend ein Messer, bei sich führte. O. kam nunmehr mit höherer Intensität auf den Angeklagten zu, weshalb der Angeklagte ihn mit der linken Hand nicht erneut abhalten konnte. Der Angeklagte streckte daher seine Arme zur Seite aus, den linken auf Grund der Wucht der Annäherung […], den rechten, um zu verhindern, dass [O. ] in das Messer lief. Es kam zu einem Kontakt des Körpers von O. mit dem Körper des Angeklagten dergestalt, dass man unmittelbar frontal voreinander stand. Der Angeklagte spürte sodann etwas an seiner rechten Flanke/Bauchregion. Er ging davon aus, dass es die linke Hand des O. war, mit der er etwas aus seiner Jackentasche herausgeholt hatte oder im Begriff war herauszuholen, um den Angeklagten hiermit nun zu attackieren. Den Angeklagten überkam ein Gefühl der Angst, woraufhin er mit dem Messer wuchtig zustach. Bei der Ausführung des Stichs hielt es der Angeklagte für möglich, hierdurch eine lebens­gefährdende Verletzung des O. hervorzurufen, was er billigend in Kauf nahm. Tatsächlich hatte O nichts aus seiner linken Jackentasche hervorgeholt.“ Der Stich des Angeklagten traf das Tatopfer im Rücken zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule, durchtrennte die fünfte Rippe, Lungenober- und -mittellappen sowie einen Seitenast der Lungenschlagader und eröffnete die Körperhauptschlagader. Diesen Verletzungen erlag O. trotz alsbald verständigter und eintreffender Rettungs­kräfte.

Aus den Gründen

Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als Totschlag gewertet. Der Angeklagte sei weder nach § 32 StGB gerechtfertigt noch nach § 33 StGB entschuldigt. Er habe sich in einer Notwehrlage befunden, sein von Verteidigungs­willen getragenes Verhalten – der Messerstich – sei indes nicht erforderlich gewesen. Zwar sei dem Angeklagten nicht zuzumuten gewesen, einen Messerstich in eine minder gefährliche Körperstelle zu wählen oder nur mit dem Schaft des Messers zu schlagen, wohl aber, einen oder mehrere Schritte zurückzugehen, den Einsatz des Messers lautstark verbal anzudrohen und die Zeugen D. und S. zu Hilfe zu rufen. Eine Entschuldigung im Sinne des § 33 StGB komme nur in Betracht bei Vorliegen eines asthenischen Affekts, für dessen Vorliegen nichts spreche, zumal der Angeklagte den Angriff des O. als nur mäßig intensiv beschrieben und nicht zum Ausdruck gebracht habe, dass er davon ausgegangen sei, O ziehe einen gefährlichen Gegenstand, wie beispielsweise ein Messer.

Soweit das Landgericht die Erforderlichkeit der Verteidigungs­handlung verneint, sind ihre Erwägungen schon mit den getroffenen Feststellungen nicht widerspruchsfrei in Einklang zu bringen. Nach diesen ist davon auszugehen, dass der Angeklagte keinerlei Anlass für einen Angriff auf ihn gegeben oder einen solchen durch sein Verhalten provoziert hatte. Als er vom später Getöteten angegriffen wurde, stand er mit dem Rücken zu einer Hauswand und wurde vom späteren Tatopfer in diese Richtung gedrängt. Weshalb es ihm gleichwohl in diesem Moment möglich und zuzumuten gewesen sein soll, „einen oder mehrere Schritte“ zurückzugehen, erhellt sich nicht ohne Weiteres. Auch erschließt sich nicht, weshalb das Androhen des Messereinsatzes zur Abwehr eines Angriffs hätte erfolgversprechend sein können, nachdem der Angeklagte den Feststellungen zufolge dies (durch „Fuchteln“) zuvor bereits erfolglos versucht hatte. Näherer Erörterung hätte auch bedurft, inwiefern das Herbeirufen der Zeugen D. und S., die nach den Feststellungen in einiger Entfernung standen und – eine Hörbarkeit der Hilferufe des Angeklagten unterstellt – erst hätten herbeieilen müssen, den unmittelbar bevorstehenden Angriff hätte abwenden können. Wird eine Person rechts­widrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, das Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Verteidigungs­möglichkeiten ist der Angegriffene nur dann auf eine für den Angreifer weniger gefährliche Alternative zu verweisen, wenn ihm genügend Zeit zur Wahl des Mittels sowie zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Nicht widerspruchsfrei sind auch die Erwägungen der Strafkammer zu § 33 StGB. Während sie bei der rechtlichen Würdigung annimmt, der Angeklagte habe die Grenzen nicht aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken verkannt, schon, weil der Angeklagte einen solchen Zustand in seiner Einlassung nicht geschildert habe, hat sie – ohne nähere Begründung – festgestellt, der Angeklagte sei mit der Situation überfordert gewesen und ihn habe, als er glaubte, die linke Hand des O. an seiner rechten Flanke zu spüren, „ein Gefühl der Angst“ überkommen. Dies hätte jedenfalls näherer Erörterung bedurft, die die Urteilsgründe vermissen lassen. Das Landgericht hat auch nicht erkennbar die Frage in den Blick genommen und erörtert, ob der Angeklagte irrig Umstände annahm, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt gewesen sein könnte. Dies zu erörtern musste sich der Strafkammer nach den getroffenen Feststellungen aufdrängen, wonach der Angeklagte glaubte, das spätere Tatopfer habe eine Waffe, „naheliegend ein Messer“, in seiner Jackentasche, und er des Weiteren davon ausging, der später Getötete habe etwas aus eben dieser Jackentasche herausgeholt, um ihn zu attackieren, oder sei im Begriff dies zu tun.

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