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BGH, Urt. v. 17.05.2023 – 6 StR 275/22: Zur Strafbarkeit gem. § 224 I Nr. 4 StGB durch Unter­lassen

Sachverhalt:

Die Geschädigte 19-jährige war an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt und stand unter Betreuung. Sie ging der Prostitution nach. Ihr Freier K und dessen Lebens­gefährtin H verbrachten die Geschädigte in die Garage des K, nachdem es zwischen ihr und H zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen ist. Hier verblieb die Geschädigte auch bis zu ihrem Tod. K, H und eine weitere Person aus deren Umkreis Kr. erkannten, dass sich die Geschädigte aufgrund ihrer akut psychotischen Symptomatik in Not befand und fach­ärztlicher Hilfe bedurfte. In der Hoffnung jedoch die Einnahmequelle für K zu erhalten, entschieden sie sich jedoch gemeinsam, keine fach­ärztliche Hilfe zu organisieren, sondern sich selbst um den Zustand zu kümmern. Sie nahmen hierdurch eine Verlängerung des Leides in Kauf, welches durch die Gabe von Medikamenten nach kurzer Zeit hätte gelindert werden können. Durch ihre Psychose schrie die Geschädigte immer wieder auf, nässte sich ein, übergab sich und krampfte. H bot ihr in Wasser aufgelöstes Salz an. Ebenso wurde ihr wiederholt Cannabisprodukte angeboten. Bei jedenfalls einer Gelegenheit wurde sie gewürgt und ihr wurde der Mund zu gehalten. Die Geschädigte verstarb in der Nacht. Die Todesursache war entweder das Würgen oder das Einwirken einer zu großen Menge Salz auf den Organismus.

Das LG hat die Angeklagten unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unter­lassen gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 4, 13 StGB schuldig gesprochen.

Dies Verurteilung hält der revisionsrechtlichen Über­prüfung stand.

Aus den Gründen:

Die Angeklagten haben den Qualifikations­tatbestand des § 224 I Nr. 3 StGB mittäterschaft­lich durch Unter­lassen erfüllt.

§ 224 I Nr. 4 StGB setzt eine Beteiligung voraus, die im konkreten Fall zu einer erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Körperverletzung für das Opfer führt. „Eine solche liegt insbesondere vor, wenn mindestens zwei Angreifer handeln und damit eine größere Zahl an Verletzungen beibringen können (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 2012 – 1 StR 447/11 Rn. 12; MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl., § 224 Rn. 36), wenn die Verteidigungs­möglichkeiten des Opfers durch die Anwesenheit mehrerer Beteiligter tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt sind (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 – 5 StR 210/02, aaO; Beschluss vom 30. Juni 2015 – 3 StR 171/15, BGHR StGB § 224 Abs. 1 Nr. 4 gemeinschaft­lich 5) oder wenn der die Körperverletzung unmittelbar ausführende Täter durch einen weiteren Beteiligten in seinem Willen hierzu bestärkt wird (vgl. BGH, Urteil vom 5. Febru- ar 1986 – 2 StR 640/85, StV 1986, 190).“ Rn. 40

§ 224 I Nr. 4 StGB kann auch durch Unter­lassen begangen werden, der Gesetzeswortlaut enthält hier keine Einschränkungen. Hierfür sprechen auch der Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Neufassung der Vorschrift vom 26.11.1998 soll dem Anliegen Rechnung tragen, dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen.

Auch der Tatbeteiligung durch Unter­lassen kann die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungs­möglichkeiten innewohnen. Nicht ausreichend ist allein das gleichzeitige Unter­lassen mehrerer Garanten iSe reinen Nebentäterschaft. Die erhöhte Gefährlichkeit kann jedoch angenommen werden, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zum Nichtstun verabreden und zumindest zwei handlungs­pflichtige Garanten zeitweilig am Tatort präsent sind. „Denn die getroffene Vereinbarung und die damit einhergehende Verbundenheit verstärken wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss, die gebotene Hilfe zu unter­lassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppen­dynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringert, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtung gerecht wird.“ Rn. 42

Vorliegend verabredeten sich die Garanten ausdrücklich, sich selbst um den Zustand der Geschädigten zu kümmern und keine ärztliche Hilfe zu holen. Die Verabredung bestärkte die Angeklagten in ihrer Entscheidung und hatte somit auf das Tatgeschehen bestimmenden Einfluss.

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