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BGH, Beschl. v. 18.01.2024 – 4 StR 289/23: Eventualvorsatz und Rücktritt vom Versuch

Sachverhalt (Rn. 3–4)

Einige Tage vor dem Tattag kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Nebenkläger und dem Vater des Angeklagten, die mit einer aus Sicht des Angeklagten herabwürdigenden Verweisung seines Vaters vom Grundstück des Nebenklägers endete. Daraufhin kündigte der Angeklagte dem Nebenkläger in einer Sprachnachricht an: „Dafür kriegst du se“. Vor diesem Hintergrund traf der Angeklagte in Gegenwart seines Vaters und seines Onkels auf den Nebenkläger, als dieser gerade im Begriff war, mit einem Transporter rückwärts auf ein Grundstück zu fahren. Der voll einsichts- und steuerungs­fähige Angeklagte entschloss sich sodann, den Nebenkläger körperlich anzugreifen. Er trat deshalb auf das Fahrzeug zu, öffnete die Fahrertür und zog den Nebenkläger heraus. Anschließend schlug der Angeklagte diesen einige Male wuchtig mit der Faust, hob ihn in die Luft und schleuderte ihn zu Boden. In der Folge versetzte er dem „völlig regungs­los“ am Boden liegenden Nebenkläger mindestens fünf heftige Faustschläge gegen den Kopf, wodurch dieser jeweils auf den asphaltierten Straßenbelag aufschlug. Dabei war dem Angeklagten bewusst, dass derartige Schläge gegen den Kopf eines regungs­los am Boden liegenden Menschen tödliche Verletzungen verursachen können. Diese Folge nahm er billigend in Kauf. Nachdem entweder sein Vater oder sein Onkel „Stopp“ gerufen hatte, beendete der Angeklagte seinen körperlichen Angriff und ging zunächst ein Stück zurück. Dann trat er noch einmal an den Geschädigten heran, beugte sich zu ihm hin­unter und beschimpfe ihn. Der Nebenkläger zeigte hierauf keine Reaktion. Anschließend versuchte der Onkel des Angeklagten, den weiterhin regungs­los am Boden liegenden Geschädigten an dessen Oberkörper hochzuziehen, was ihm aber nicht gelang, weil der Nebenkläger durch die Schläge des Angeklagten bewusstlos geworden war. Erst nach dem Eintreffen unbeteiligter und ihm zu Hilfe eilender Personen erlangte er sein Bewusstsein wieder. Zuvor hatte sich der Angeklagte bereits vom Tatort entfernt. Der Nebenkläger erlitt infolge des körperlichen Angriffs des Angeklagten eine dislozierte Kieferfraktur mit massiven Einblutungen, die operativ behandelt werden musste. Nach einwöchigem Krankenhausaufenthalt war er noch weitere eineinhalb Monate arbeits­un­fähig.

Das LG hat den Angeklagten des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) für schuldig befunden. Dabei ist es davon ausgegangen, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungs­vorsatz gehandelt hat. Den Tötungs­versuch hat die Jugendkammer als beendet angesehen und einen Rücktritt verneint, weil der Angeklagte die danach gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB erforderliche Rücktrittsleistung nicht erbracht habe.

Aus den Gründen (Rn.7–17)

Bedingter Tötungs­vorsatz (Rn. 7–14):

Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und ihn zudem billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit ihm abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein. Bei äußerst gefährlichen (Gewalt-)Handlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen, und – weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt – einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebens­gefährlichkeit der Tatausführung stellt deshalb auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungs­vorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar. Grundsätzlich ist eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände erforderlich. In die Prüfung sind dabei neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivations­lage einzubeziehen.

Daran gemessen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts mit Rücksicht auf den eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungs­maßstab nicht zu beanstanden.

Das Landgericht hat auf der Grundlage einer Gesamtschau der durch die Beweisaufnahme gewonnenen Er­kenntnisse den möglichen Schluss gezogen, dass der Angeklagte den Tod des Nebenklägers als Folge seiner äußerst gefährlichen Gewalthandlungen billigend in Kauf nahm.

Dabei ist die Jugendkammer zunächst zutreffend von der offensichtlichen Lebens­gefährlichkeit der Handlungs­weise des Angeklagten ausgegangen. Sodann hat sie rechts­fehlerfrei aus der Wahrnehmungs­fähigkeit des Angeklagten bei Ausführung der wuchtigen und gezielten Faustschläge aus unmittelbarer Nähe gegen den Kopf des bereits regungs­los auf dem Straßenasphalt liegenden Nebenklägers abgeleitet, dass der Angeklagte dabei die Verursachung tödlicher Verletzungen für möglich gehalten hat. Es entspricht gesicherter allgemeiner Kenntnis, dass derartige Schläge gegen den Kopf einer regungs- und reaktions­losen Person mit anschließendem Aufprall gegen einen festen Gegenstand immer äußerst schwerwiegende Folgen bis hin zum Tod haben können. Medizinischen Fach­wissens bedarf es dazu nicht.

Sodann hat das Landgericht angesichts der festgestellten und vom Angeklagten erkannten objektiven Gefährlichkeit seines Tuns (kognitives Element) aus dem Fortsetzen seines gefährlichen Handelns (mindestens fünf Faustschläge) auf dessen billigende Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs (voluntatives Element) geschlossen. Auch dieser Schluss entspricht den oben dargestellten Vorgaben und ist deshalb rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Ausführungen zur Annahme des voluntativen Vorsatzelements sind entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers und des Generalbundes­anwalts auch nicht lückenhaft.

Die Jugendkammer war nicht gehalten, das Motiv des Angeklagten, den mit ihm familiär verbundenen Nebenkläger lediglich durch Schläge für den vorangegangenen Grundstücksverweis seines Vaters bestrafen zu wollen, näher in den Blick zu nehmen, weil der mit bedingtem Tötungs­vorsatz handelnde Täter kein Tötungs­motiv im engeren Sinne hat, da er den tödlichen Erfolg gerade nicht erstrebt, sondern seinen Eintritt lediglich in Kauf nimmt. Der Senat besorgt insoweit auch nicht, dass die Jugendkammer dem Bestrafungs­motiv des Angeklagten jeden Indizwert für die subjektive Tatseite abgesprochen hat, soweit sie den Handlungs­antrieb des Angeklagten im Rahmen ihrer Ausführungen zur Spontaneität seines Handelns bedacht und damit in der gebotenen umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände auch berücksichtigt hat.

Ferner bedurfte es keiner näheren Erörterung, dass der gesamte Angriff nach der ausgewerteten Videoaufzeichnung lediglich sieben Sekunden dauerte und der Angeklagte dem Nebenkläger die fünf Faustschläge innerhalb von vier Sekunden versetzte. Zwar hat das Tatgericht auch die im Einzelfall in Betracht kommenden Umstände in seine Erwägungen einzubeziehen, die den Vorsatz in Frage stellen können. Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das – selbstständig neben dem Wissenselement stehende – voluntative Vorsatzelement ohne Weiteres gegeben ist. Derartiger vorsatzkritischer Umstände war sich die sachverständig beratene Jugendkammer aber bewusst. Sie hat sich hiermit auseinandergesetzt und sie im Ergebnis rechts­fehlerfrei verneint. Einen – die Einsichts- und/oder Steuerungs­fähigkeit des Angeklagten in Frage stellenden – akuten affektiven Erregungs­zustand zur Tatzeit hat sie ausgeschlossen, weil der ansonsten psychisch unauffällige Angeklagte nach den getroffenen und belegten Feststellungen die Bestrafungs­aktion vorab gegenüber dem Nebenkläger angekündigt hatte und anlässlich der „Stopp“-Rufe sogleich von seinem Opfer abgelassen hat. Die vorherige Androhung der Schläge durch den Angeklagten und seine Ansprechbarkeit während der Tatausführung hat das Landgericht als Umstände gewertet, die gegen eine Spontantat in affektiver Erregung sprechen. Vor dem Hintergrund dieser gewichtigen Beweisanzeichen musste es sich nicht näher mit der schnellen Abfolge der Faustschläge befassen.

Rücktritt vom Versuch (Rn. 15–17)

Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts zum beendeten Tötungs­versuch mit der daran anknüpfenden Verneinung eines strafbefreienden Rück- tritts weist keinen Rechts­fehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen einem unbeendeten Versuch, bei dem allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt vom Versuch führt (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB), und einem beendeten Versuch, bei dem der Täter für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch den Tod des Opfers durch eigene Rettungs­bemühungen verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen muss (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB), ist das Vorstellungs­bild des Täters (Rücktrittshorizont) unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungs­handlung. Ein beendeter Tötungs­versuch ist anzunehmen, wenn er zu diesem Zeitpunkt den Eintritt des Todes bereits für möglich hält. Dafür reicht die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt nahelegen, aus.

Die diesem Maßstab genügende Feststellung des Landgerichts, der Angeklagte habe nach Ausführung des letzten Schlages den Tod des Geschädigten für möglich gehalten, wird von der Beweiswürdigung getragen. Sie weist insoweit auch keine Lücke auf. Zwar vermisst der Generalbundes­anwalt eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der Angeklagte nach der Tatausführung (mindestens einmal) zu dem am Boden liegenden Geschädigten zurückgekehrt war, um ihn zu beschimpfen. Jedoch hat sich die Jugendkammer mit diesem Gesichtspunkt, der nach Ansicht des Generalbundes­anwalts nahelege, dass der Angeklagte den Nebenkläger zu diesem Zeitpunkt noch für ansprechbar und aufnahme­fähig gehalten habe, befasst. Sie hat hierzu ausgeführt, dass der regungs­los am Boden liegende Nebenkläger nach dem letzten Schlag weder auf die anschließende Beschimpfung des Angeklagten noch auf den Versuch des Onkels, ihn vom Boden hochzuziehen, in irgendeiner Weise reagiert habe. Damit hat die Jugendkammer das – nach der letzten Ausführungs­handlung – vom Angeklagten wahrgenommene Verhalten des Opfers in den Blick genommen und sodann aus der besonderen Gefährlichkeit der Tatausführung sowie der „hinzukommenden Bewegungs­losigkeit“ des Geschädigten auf die vom Angeklagten erkannte Möglichkeit des Erfolgseintritts geschlossen. Dieser Schluss ist möglich und deshalb vom Senat hinzunehmen, zumal die andauernde Un­fähigkeit des Opfers zu körperlichen Reaktionen eher für die vom Angeklagten nach der letzten Ausführungs­handlung für möglich gehaltene Lebens­gefährlichkeit seiner Tathandlungen spricht. Zwingend braucht die Schlussfolgerung hingegen nicht zu sein. Das Landgericht hat weiter dargelegt, dass die Einlassung des Angeklagten, der Nebenkläger habe zwar auf seine Beschimpfung keine Regung bzw. Reaktion gezeigt, aber noch die Augen „aufgehabt“ und geatmet, ihrer Überzeugung nicht entgegenstünde, da der Tod gerade noch nicht eingetreten sein müsse, sondern es ausreiche, dass der Angeklagte den Eintritt nur für möglich gehalten habe. Auch diese Erwägung ist rechtlich nicht zu beanstanden, weil ein beendeter Versuch nicht erst bei Kenntnis vom sicheren Todesverlauf vorliegt. Es genügt viel- mehr, dass der Täter die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt.

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