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BGH, Beschl. v. 29.01.2025 – 4 StR 265/24: Zur Abgrenzung Täterschaft/Teilnahme bei der Selbsttötung

Sachverhalt (Rn. 6–14) 

Der Geschädigte litt unter einer akuten paranoiden Schizophrenie und einer mittelgradigen depressiven Episode. Dadurch befand er sich in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage. Er lehnte jede Medikation und sonstige Behandlung ab und „behandelte“ sich selbst stattdessen mit Kortison, was zu einem starken Augenleiden führte. Das Sehvermögen konnte aber durch OPs wiederhergestellt werden. Der Geschädigte glaubte irrig aufgrund seiner Wahnvorstellung trotzdem zu erblinden und wollte damit nicht leben. Er äußerte gegenüber dem Angeklagten, einem Fach­arzt für Neurologie und Psychiatrie, seinen Suizidwunsch. 

Da der Angeklagte den Suizidwunsch für „plausibel nachvollziehbar“ hielt und dem Geschädigten bezogen auf sein Leidenserleben „seine Sicht der Dinge“ zustand, bejahte er die Frei­verantwortlichkeit nach seiner eigenen Definition. 

Dass dieses Verständnis von Frei­verantwortlichkeit rechtlich zu weit und sein Handeln rechts­widrig sein könnte, hielt der Angeklagte für möglich und nahm dies billigend in Kauf. 

Der Angeklagte legte dem Geschädigten einen venösen Zugang am Arm, hängte eine Infusion und prüfte das Zuflussventil. Der Geschädigte öffnete dann selbst das Ventil und verabreichte sich im Wissen um die tödliche Wirkung eine letale Dosis. Er starb daraufhin im Beisein des Angeklagten. 

Aus den Gründen 

Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als Totschlag in mittelbarer Täterschaft gewertet (§ 212 I, § 25 I Alt. 2 StGB). Die Selbsttötungs­handlung des Geschädigten sei dem Angeklagten nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zuzurechnen, weil diesem im Tatzeitpunkt die für einen frei­verantwortlich gebildeten Sterbewunsch notwendige Einsichts- und Urteils­fähigkeit gefehlt habe, was der Angeklagte auch erkannt habe. Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken. (Rn. 15 f.) 

„Die aktive Mit­wirkung an der Selbsttötung eines anderen kann als in mittelbarer Täterschaft begangene Tötung strafbar sein, wenn der Selbsttötungs­entschluss nicht auf einem frei­verantwortlichen Willensentschluss des Suizidenten beruht und der Täter in Kenntnis dessen die Tatherrschaft über das zum Tod führende Geschehen ausübt. Notwendige Bedingung der Strafbarkeit in Konstellationen der Selbsttötung ist mithin, dass der Suizident sich – vom Suizidhelfer erkannt – zum Tatzeitpunkt in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage befindet. Ob ein Suizidentschluss in diesem Sinne als frei­verantwortlich zu bewerten ist, hängt – ähnlich wie die im Rahmen des § 216 StGB zu beantwortende Frage der Ernstlichkeit des Tötungs­verlangens – davon ab, ob der Suizident über die natürliche Einsichts- und Urteils­fähigkeit verfügt und fähig ist, seine Entscheidung autonom und auf der Grundlage einer realitätsbezogenen Abwägung der für und gegen die Lebens­beendigung sprechenden Umstände zu treffen. Der Rechts­gutsinhaber, der sein Leben beenden will, muss in der Lage sein, Bedeutung und Tragweite dieses Entschlusses verstandesmäßig zu überblicken und eine abwägende Entscheidung zu treffen. Hieran kann es namentlich bei Vorliegen einer akuten psychischen Störung fehlen. Insoweit bedarf es der Feststellung konkreter, die Frei­verantwortlichkeit ausschließender Umstände.“ (Rn. 17 f.) 

„Allerdings hat das so festgestellte Fehlen der Frei­verantwortlichkeit nicht zur Folge, dass jeglicher Beitrag eines – seinerseits frei­verantwortlich handelnden – Dritten an der Bildung oder Umsetzung des Suizidentschlusses ohne weiteres als täterschaft­liche Fremdtötung zu bewerten wäre. Die Unfreiheit des Suizidenten ist, wie ausgeführt, zwar notwendige, nicht aber zugleich hinreichende Bedingung für eine Strafbarkeit wegen eines in mittelbarer Täterschaft begangenen Tötungs- oder Körperverletzungs­delikts. Hinzutreten muss, dass dem die Selbsttötung Veranlassenden oder Fördernden eine vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft über das zum Suizid führende Geschehen zukommt; er muss das Geschehen mit steuerndem Willen in den Händen halten. Ob dies der Fall ist, richtet sich nicht nach starren Regeln, sondern ist in wertender Betrachtung unter Einbeziehung aller im Einzelfall insoweit maßgeblichen Umstände zu ermitteln.“ (Rn. 19) 

Das Landgericht hat sowohl die Voraussetzungen der fehlenden Frei­verantwortlichkeit des Suizidentschlusses des Geschädigten als auch der Tatherrschaft des Angeklagten rechts­fehlerfrei festgestellt. (Rn. 20) 

Es lag nicht nur nach dem vorgenannten Maßstab der Rechts­prechung und der im Schrifttum in ähnlicher Ausgestaltung befürworteten „Einwilligungs­lehre“ kein frei­verantwortlicher Suizidentschluss des Geschädigten vor. Auch eine Beurteilung nach den Grundsätzen der von Teilen der Lehre vertretenen „Exkulpations­lösung“ würde im vorliegenden Fall zu keinem anderen Ergebnis führen, nachdem der psychiatrische Sachverständige, dem die Kammer auch insoweit gefolgt ist, die schizophrene und depressive Krankheits­symptomatik des Geschädigten als nach Art und Schwere einer „krankhaften seelischen Störung“ im Sinne des § 20 StGB entsprechend eingeschätzt hat. (Rn. 22) 

Der Unfreie Selbsttötungs­akt ist dem Angeklagten auch nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zuzurechnen. „Nach den Feststellungen war der Angeklagte in objektiver Hinsicht die Zentralgestalt des Geschehens. Er konstellierte und organisierte dessen Ablauf zweckgerichtet so, dass mit dem Öffnen des Ventils nur das letzte Element einer längeren Abfolge von Handlungen mit dem Ziel des Todes des Geschädigten diesem selbst überlassen blieb, während alles Vorherige durch den Angeklagten ausgeführt worden war. Damit hatte der Angeklagte Bedingungen geschaffen, die geeignet waren, eine dem Selbsttötungs­vollzug etwa entgegenstehende Hemmschwelle möglichst weit herabzusenken, weil es nur noch einer geringfügigen Bewegung des Geschädigten bedurfte.“  (Rn. 24 f.) 

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