BGH, Urt. v. 13.02.2025 – 4 StR 327/ 24: Zur Notwehrprovokation
Leitsatz
- Erlaubtes Tun bei Notwehrprovokation führt nicht automatisch zur Einschränkung des Notwehrrechts. Entscheidend ist ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen sowie ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen Vorverhalten und rechtswidrigem Angriff.
- Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt.
Sachverhalt (Rn. 5 f.)
Der Angekl. provozierte den Gesch. mit Gesten und nahm ihn später auch in den Schwitzkasten. Um ihn zu befreien, schlugen und traten die Begleiter des Gesch. auf den Angekl. ein. Dabei erlitt dieser ein Schädel-Hirn-Trauma und verlor sein Smartphone. Der Gesch. entfernte sich mit seinen Begleitern. Als der Angekl. sich nach erfolgloser Suche nach dem Telefon in sein Auto gesetzt hatte, kamen der Gesch. und seiner Begleiter vorbei und leuchteten in das Fahrzeug. Der Angekl. stieg aus, bewaffnet mit einem aufgeklappten Klappmesser, und fragte den Gesch. nach dem Telefon. Dieser erklärte, er habe damit nichts zu tun. Daraufhin fragte der Angekl. ihn, was „denn jetzt los“ sei, und aus der Gruppe wurde eine Warnung vor dem Messer des Angekl. gerufen. Der Gesch. versetzte – um die Diskussion zu beenden – dem Angekl. „unvermittelt eine wuchtige Ohrfeige oder einen heftigen Faustschlag ins Gesicht. Dieser verlor hierdurch seine Brille.“ Möglicherweise aus Angst vor weiteren Misshandlungen stach der Angekl. dem Gesch. das Messer unmittelbar danach wuchtig und mit Tötungsvorsatz in den Brustkorb. Der Gesch. verstarb am Tatort.
Aus den Gründen
Das Landgericht hat die Tat als Totschlag, § 212 StGB, jedoch nach § 33 StGB als entschuldigt gewertet, „weil [der Angeklagte] im Zeitpunkt des Messerstichs nicht ausschließbar aufgrund einer gesteigerten Angst die Grenzen der Notwehr überschritten habe. (Rn. 7) Die Beweiswürdigung des Landgerichts entspricht jedoch nicht den rechtlichen Anforderungen. (Rn. 13)
„Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es Zweifel an dessen Täterschaft oder Schuld nicht zu überwinden vermag, ist dies von dem Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtlich zu beanstanden sind die Beweiserwägungen weiterhin dann, wenn sie erkennen lassen, dass das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Es ist nicht geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.“ (Rn. 12)
„Die Einlassung eines Angeklagten, für die es keine Beweise gibt, kann […] nicht ohne weiteres zur Grundlage von Feststellungen gemacht werden. An die Bewertung einer entlastenden Einlassung eines Angeklagten sind vielmehr grundsätzlich die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Der Tatrichter hat sich daher aufgrund der Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden.“ (Rn. 16)
„[Zudem] bleibt unerörtert, ob und inwieweit die letztlich als bloße Panikreaktion bewertete Gewalthandlung des Angeklagten durch Wut und Verärgerung beeinflusst oder gar dominiert worden sein kann. Dies drängte sich hier aber auf, nachdem der Angeklagte zuvor von dem Geschädigten und weiteren Personen misshandelt worden war und bei dieser Gelegenheit sein ihm wichtiges Mobiltelefon verloren hatte.“ (Rn. 18)
„Die Kammer erörtert auch nicht, dass die Einlassung des Angeklagten selbst, er habe den Geschädigten nach dem Aussteigen direkt nach dem Handy gefragt und dabei ganz normal und ruhig dagestanden, gegen die Annahme „panischer Angst“ sprechen könnte.“ (Rn. 19)
Zusätzlich weist der Senat auf Folgendes hin: Im Rahmen des § 32 Abs. 2 StGB ist genauer als bisher auf eine mögliche Angriffsprovokation einzugehen. „Für die Fälle der Notwehrprovokation ist zu unterscheiden: Eine Absichtsprovokation begeht, wer zielstrebig einen Angriff herausfordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen. In einem solchen Fall ist dem Täter Notwehr – jedenfalls grundsätzlich – versagt, weil er rechtsmissbräuchlich handelt, indem er einen Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklichkeit aber angreifen will. Erfolgt die Provokation (nur) vorsätzlich, wird dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt genommen; es werden an ihn jedoch umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat. Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat, darf er von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt. Ein rechtlich gebotenes oder erlaubtes Tun führt hingegen nicht ohne weiteres zu Einschränkungen des Notwehrrechts, auch wenn der Täter wusste oder wissen musste, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten. Eine Notwehreinschränkung [iRd. Notwehrprovokation] setzt voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht.“ (Rn. 24)
Ergibt sich, dass der Angeklagte in einer gegebenen Notwehrsituation über das iSv § 32 Abs. 2 StGB Erforderliche hinausgegangen ist, „kommt ihm der Schuldausschließungsgrund des § 33 StGB zugute, wenn einer der in der Vorschrift genannten asthenischen Affekte für die Überschreitung der Grenzen der Notwehr wenigstens mitursächlich war.“ Dies gilt auch bei einer auch bei einer schuldhaften Notwehrprovokation, nicht jedoch bei einer Absichtsprovokation, da ihm hier schon kein Notwehrrecht zustünde, sowie bei fehlendem Verteidigungswillen. Bei einer schuldhaften Notwehrprovokation muss in Bezug auf ein möglicherweise aggressives Vor- oder Nachtatverhalten genau geprüft werden, ob aus den in § 33 StGB genannten Affekten gehandelt wurde. (Rn. 25)
„Sollte der neue Tatrichter zu dem Ergebnis gelangen, dass sich der An geklagte tatsächlich in einer Notwehrlage befand, er aber irrig davon ausging, der Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten weiterer Angreifer verstärkt werden, so beurteilt sich sein Handeln nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums, wenn das gewählte Verteidigungsmittel in der von dem Angeklagten angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre. Eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ist dann nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Bei Vermeidbarkeit des Irrtums kommt gemäß § 16 Abs. 2 StGB nur die Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht. Zu prüfen bleibt dann, ob der (vermeidbare) Irrtum auf einem der in § 33 StGB genannten asthenischen Affekte – Verwirrung, Furcht oder Schrecken – beruht, denn hierdurch entfiele schuldhaftes Handeln.“ (Rn. 26)