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OLG Hamm, Beschl. v. 20.08.2015 – 5 RVs 102/15: Zur Vorhersehbarkeit bei einer fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr

Leitsätze:
1. Ein Mitverschulden des Unfallgegners ist nur dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls für den Täter einer fahrlässigen Körperverletzung auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebens­erfahrung liegenden Verhalten besteht.
2. Zumindest die vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist bei wertender Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten anzusehen. Kann ein solches Verhalten des Unfallgegners nicht sicher ausgeschlossen werden, muss es nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu Gunsten des Angeklagten unter­stellt und damit die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Angeklagten verneint werden.

Sachverhalt:

Der Angekl. A fuhr mit seinem Trans­porter mit 65 km/h auf eine Kreuzung zu. Von links näherte sich B in seinem Fahrzeug mit ca. 30 km/h. Beide fuhren gleichzeitig auf die Kreuzung. Obwohl A stark abbremst, kann die Kollision nicht mehr verhindert werden. Sowohl B als auch sein Beifahrer C erleiden Verletzungen, wobei C später stirbt. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf beiden Straßen beträgt 50 km/h.
A hatte den B bereits eine Zeit lang vor der Einfahrt in die gut einsehbare Kreuzung erblickt, war jedoch davon ausgegangen, dass dieser anhalten wird.
Wäre A mit dieser Geschwindigkeit gefahren, wäre er durch eine rechtzeitige Bremsung 0,7 Sekunden später am Unfallort eingetroffen. Zu dieser Zeit hätte das Fahrzeug des B die Unfallstelle bereits um sechs Meter passiert.

Das Landgericht Essen hatte A wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen. Es hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem verkehrs­widrigen Verhalten des A – der Geschwindigkeits­überschreitung –und dem Unfall angenommen. Den Umstand, dass B selbst womöglich bei Rot auf die Kreuzung gefahren ist, hat das LG – in dubio pro reo – strafmildernd berücksichtigt.

Das OLG weist die Entscheidung an die kleine Strafkammer zurück. Es müsse geklärt werden, ob B ein Rotlichtverstoß vorzuwerfen sei und er an dem Unfall ein Mitverschulden trage.
„Ein Mitverschulden des Unfallgegners ist dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls (…) auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebens­erfahrung liegenden Verhalten besteht“.
Gewöhnliche Rotlichtverstöße beruhten „häufig auf Unaufmerksamkeit oder auch auf Rücksichtslosigkeit, seien aber nicht gänzlich vernunftwidrig“. Es komme vielmehr darauf an, „wie lange die Ampel im Zeitpunkt des Verstoßes schon Rotlicht angezeigt hatte.
Erst der sog. qualifizierte Rotlichtverstoß (länger als 1 Sek. Rot) ist bußgeldrechtlich (in § 4 Abs. 1 Nr. 3 BKatV i. V.m. Nr. 132.3) als grobe Pflichtverletzung i. S.d. § 25 Abs. 1 StVG einzustufen.
Zudem komme es auf die Schuldform an: „Zumindest eine vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist bei wertender Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten im vorbeschriebenen Sinne anzusehen.“

Anmerkung für die Klausurlösung:

Generell ist bei Geschehen im Straßenverkehr immer daran zu denken, dass hier der Vertrauensgrundsatz gilt. Wer sich selbst verkehrs­gerecht verhält, darf dies auch von den anderen Straßenverkehrs­teilnehmern erwarten und muss sein Verhalten nicht darauf einrichten, dass andere sich ordnungs­widrig oder unvernünftig verhalten. Damit soll verhindert werden, dass Sorgfaltspflichten überspannt werden und der Verkehrs­ablauf durch übermäßige Kontrolle behindert wird. Da sich A hier aber selbst nicht an die Verkehrs­regeln hielt, kann er sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Das bedeutet allerdings nicht, dass er mit einem verkehrs­widrigen Verhalten des B rechnen musste!

Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch die Frage, ob der Pflichtwidrigkeits­zusammenhang entfällt, wenn der Zusammenstoß auch bei pflichtgemäßem Alternativ­verhalten, also bei Fahren mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingetreten wäre. Auch dann bestünde kein Zusammenhang zwischen dem Schaffen einer rechtlich missbilligten Gefahr (Geschwindigkeits­übertretung) und der Erfolgsverursachung.
In einer Klausur wäre zudem zu problematisieren, ob möglicherweise der Schutz­zweck der Norm gegen die objektive Zurechenbarkeit spricht. Geschwindigkeits­begrenzungen sollen nicht das Eintreffen des Schädigenden zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem anderen Ort (dem Unfallort) verhindern, sondern ein rechtzeitiges Anhalten oder auch gefahrloses Ausweichen ermöglichen.
Problematisch ist aber die Konstellation, in der die Geschwindigkeit im Zeitpunkt des Eintritts in die Gefährdungs­lage übertreten wird. In einem ähnlichen Fall hatte der BGH entschieden, dass auch strafbar sei, wer den Unfall auf andere Weise als durch Anhalten hätte vermeiden können, also durch Über­queren der Kreuzung mit der zulässigen Geschwindigkeit. Denn es gehöre zum Schutz­zweck, den anderen Verkehrs­teilnehmenden einen gefahrlosen Begegnungs- und Kreuzungs­verkehr zu ermöglichen. In dem Fall, dass A ab dem kritischen Zeitpunkt – das Bemerken des B – die Höchstgeschwindigkeit beachtet hätte und dadurch dem B genug Zeit verblieben wäre, den potenziellen Unfallort zu verlassen, bevor es zum Zusammenstoß gekommen wäre, würde die objektive Zurechnung nach dieser Rechts­prechung also nicht entfallen.

Zum Volltext der Entscheidung

Pressemitteilung des OLG Hamm

Ausführlich zum Fall und zur Problematik im Allgemeinen: famos April 2016