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BGH, Beschl. v. 11.04.2018 – 4 StR 583/17: Verlassen der Unfallstelle nach der letzten feststellungs­berechtigten Person

Leitsatz: Der Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist auch dann erfüllt, wenn der Täter den Unfallort erst nach der letzten feststellungs­berechtigten Person verlässt, sofern er zuvor seine Vorstellungs­pflicht verletzt hat.

 

Sachverhalt:

Der Angeklagte S befuhr die linke und der Angeklagte H die rechte Spur einer doppelspurig ausgebauten Straße. Unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit befuhren beide eine Rechts­kurve. Zum Zeitpunkt der Kurvenausfahrt fuhr die Zeugin Z mit ihrem Pkw aus einer Parkbucht am rechten Fahrbahnrand in Fahrtrichtung der Angeklagten in den rechten Fahrtstreifen ein. Zur Vermeidung einer Kollision wich H auf die linke Fahrspur aus. S veranlasste dieses Ausweichmanöver zu einer Schreckreaktion und verriss das Lenkrad nach links in Richtung der Gegenfahrbahn. Hierbei kam es zu einer Kollision mit entgegenkommenden Pkws.

Nach Abstellen seines Fahrzeugs kehrte H zum Unfallort zu Fuß zurück. Dort gab er sich bewusst nicht als Unfallbeteiligter zu erkennen. Den Polizeibeamten gegenüber schilderte er den Unfall aus Sicht eines am Fahrbahnrand befindlichen Fußgängers. Er machte Angaben zum Unfallhergang, wobei er seine eigene Unfallbeteiligung durch die eines vermeintlich unbekannten Fahrers ersetzte.

Schließlich verließ H den Unfallort, ohne jemandem etwas von seiner Unfallbeteiligung mitzuteilen. Ob zu diesem Zeitpunkt noch Polizeibeamte vor Ort waren, oder ob keine andere Person mehr anwesend war, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen.

Aus den Gründen:

„Gemäß § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB macht sich strafbar, wer sich nach einem Unfall im Straßenverkehr als Unfallbeteiligter vom Unfallort entfernt, bevor er zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglicht hat.

Ob dieser Tatbestand auch dann erfüllt ist, wenn sich der Unfallbeteiligte als Letzter vom Unfallort entfernt, ist bislang in Rechts­prechung und Literatur unterschiedlich beurteilt worden.“

Nach der bisher im Schrifttum überwiegenden Ansicht, ist der Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch dann erfüllt, wenn der Täter den Unfallort erst nach der feststellungs­berechtigten Person verlässt, sofern er zuvor seine Vorstellungs­pflicht verletzt hat.

Die Gegenansicht verneint eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Das Verlassen des Unfallorts ist nur dann strafbar, wenn es dem Unfallbeteiligten noch möglich ist, seine Vorstellungs­pflicht gegenüber (anwesenden) feststellungs­bereiten Personen zu erfüllen. Hat sich der feststellungs­berechtigte Unfallgegner bereits entfernt, könnten keine Feststellungen mehr vereitelt werden. Eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist hingegen nicht ausgeschlossen.

Der BGH hat sich nunmehr der im Schrifttum vertretenen Ansicht angeschlossen.

a) Wortlaut

§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass sich der Täter entfernt „bevor“ er die gebotenen Feststellungen ermöglicht hat. Das Merkmal „bevor“ ist so zu verstehen, dass der Täter den Unfallort verlassen haben muss, ohne zuvor die gebotenen Feststellungen ermöglicht zu haben. Nach welcher Reihenfolge sich die Unfallbeteiligten entfernen und ob der Täter im Zeitpunkt seines Sich-Entfernens die Pflicht noch gegenüber einer anwesenden Person hätte erfüllen können, ist bedeutungs­los.

b) Entstehungs­geschichte

Nach dem Willen des Gesetzgebers bei Einführung des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das 13. Strafrechts­änderungs­gesetz vom 13. Juni 1975 (BGBl. I, S. 1349) sollten solche Verhaltensweisen pönalisiert werden, bei denen der Schädiger „zwar pflichtgemäß gewartet, sich aber nicht als Unfallbeteiligter zu erkennen gegeben hat“ (BT-Drucks. 7/2434, S. 7).

Dem entspricht auch die Konstellation, dass der Täter so lange am Unfallort wartet, bis kein feststellungs­berechtigter Unfallgegner mehr anwesend ist.

c) Systematik

Auch die Systematik spricht für eine Anwendung des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Andernfalls wäre keine der anderen Tatbestandsvarianten des § 142 StGB erfüllt. Einer entsprechenden Anwendung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB stünde das Analogieverbot entgegen.

„Es bestünde ein erheblicher Wertungs­widerspruch, wenn sich ein Unfallbeteiligter, der sich nach Ablauf der Wartepflicht (§ 142 Abs. 2 Nr. 1 StGB) bzw. berechtigt oder entschuldigt (§ 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB) vom Unfallort entfernt hat, bei nicht unverzüglicher nachträglicher Ermöglichung der Feststellungen strafbar machte, hingegen ein Unfallbeteiligter, der sich nach Verletzung seiner Vorstellungs­pflicht als Letzter vom Unfallort entfernt, endgültig straffrei bliebe.“

d) Telos

„Das Schutz­gut des § 142 StGB besteht in der Sicherung bzw. Abwehr der durch einen Unfall entstandenen zivilrechtlichen Ansprüche. Dieses Schutz­gut ist auch dann betroffen, wenn sich der Täter erst nach der feststellungs­berechtigten Person vom Unfallort entfernt, sofern er zuvor seine Vorstellungs­pflicht verletzt hat.“

„Der als letzter am Unfallort verbleibende Unfallbeteiligte wäre schließlich auch nicht gezwungen, zeitlich unbegrenzt am Unfallort zu verharren, um sich nicht strafbar zu machen. Ihm verbleibt vielmehr ohne Weiteres die Möglichkeit, feststellungs­bereite Personen – insbesondere die Polizei – zum Unfallort herbeizurufen, um sich mittels nachgeholter Erfüllung seiner Vorstellungs­pflicht straffrei vom Unfallort entfernen zu können.“

 

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