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BGH, Urt. v. 1.03.2018 – 4 StR 399/17: Zum Nachweis des Tötungs­vorsatzes in den sog. „Raser-Fällen“

Zur Bedeutung der Eigengefährdung für das Vorliegen von bedingtem Tötungs­vorsatz bei riskanten Verhaltensweißen im Straßenverkehr sowie zum Zeitpunkt des Vorsatzes

Sachverhalt:

Die beiden Angekl. N und H befuhren nachts mit ihren Fahrzeugen den Kurfürstendamm in Berlin. Als sie an einer roten Ampel nebeneinander zum Stehen kamen, verabredeten sie spontan ein Autorennen. Dabei nahm H die Beifahrerin K im Fahrzeug des N wahr. Bei der gegenseitigen Verfolgung überschritten die Angekl. die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich und missachteten mehrere rote Ampeln. Als H (mit 139–149 km/h) und N (mit 160–170 km/h) bei rotem Ampelsignal in eine Kreuzung einfuhren, kollidierte das Fahrzeug des H mit dem Fahrzeug des W, welcher regelkonform bei grünem Ampelsignal in die Kreuzung eingefahren war. W zog sich dadurch schwere Verletzungen zu und starb noch am Unfallort. Zudem wurde K erheblich verletzt.

Das LG verurteilte N und H wegen Mordes mit gemeingefährlichen Mitteln in Mittäterschaft (§§ 211 II, 25 II StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (224 I Nrn. 2 u. 5 StGB) sowie wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c II Nr. 2a u. d StGB). Der BGH hob auf die Revision der Angekl. das Urteil des LG mit dessen Feststellungen auf und wies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LG zurück.

Aus den Gründen:


Nach Ansicht des BGH tragen bereits die Feststellungen zum Vorsatz nicht die Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungs­delikts: „Voraussetzung für die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat ist nach § 16 StGB, dass der Täter die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, bei ihrer Begehung kennt. Dementsprechend muss der Vorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung vorliegen (…). Fasst der Täter den Vorsatz erst später (dolus subsequens), kommt eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht in Betracht (…).“ Daraus folgt, dass „ sich wegen eines vorsätzlichen Delikts nur strafbar macht, wer ab Entstehen des Tatentschlusses noch eine Handlung vornimmt, die in der vorgestellten oder für möglich gehaltenen Weise den tatbestandlichen Erfolg – bei Tötungs­delikten den Todeserfolg – herbeiführt.“ (Rn. 13)
Das LG hat einen bedingten Tötungs­vorsatz erst für den Zeitpunkt festgestellt, als die Angekl. bei Rotlicht zeigender Ampel in die Kreuzung einfuhren. Daraus folgt für den BGH, dass „sich das LG nicht die Überzeugung verschafft hat, dass die Angekl. den Tod eines anderen Verkehrs­teilnehmers als Folge ihrer Fahrweise schon vor dem Einfahren in den Kreuzungs­bereich als möglich erkannten und billigend in Kauf nahmen. Hatten die Angekl. den Tötungs­vorsatz erst beim Einfahren in die Kreuzung gefasst, könnte eine Verurteilung (…) nur dann Bestand haben, wenn sie nach diesem Zeitpunkt noch eine Handlung vornahmen, die für den tödlichen Unfall ursächlich war (…).“ (Rn. 14) „Solche Feststellungen hat das LG jedoch nicht getroffen. Vielmehr führte es aus, dass die Angekl. beim Einfahren in die Kreuzung bereits keine Möglichkeit zur Vermeidung der Kollision mehr besaßen.“ (Rn.15)

Das LG habe sich zudem mit der möglichen Eigengefährdung der Angekl. im Falle einer Kollision mit einem anderen Fahrzeugen nicht in rechtlich trag­fähiger Weise auseinandergesetzt. „Zwar gibt es keine Regel, wonach es einem Tötungs­vorsatz entgegensteht, dass mit der Vornahme einer fremdgefährdenden Handlung auch eine Eigengefährdung einhergeht (…). Bei riskanten Verhaltensweise im Straßenverkehr, die nicht von vorneherein auf die Verletzung einer anderen Person (…) angelegt sind, kann aber eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraut hat.“ (Rn. 21)
„Bei der Würdigung des Geschehens hat die Strafkammer dem Gesichtspunkt einer möglichen unfallbedingten Eigengefährdung bereits im Ansatz jegliches Gewicht abgesprochen, indem sie davon ausgegangen ist, dass sich die Angekl. in ihren Fahrzeugen wohl gefühlt hätten.“ (Rn. 22) Das LG führte aus, dass „sportlich genutzte Fahrzeuge der in Rede stehenden Art“ ein „besonders Gefühl der Sicherheit“ vermittelten. Nach Ansicht des BGH hat das LG bei der Annahme eines solchen Sicherheitsgefühls rechts­fehlerhaft auf einen nicht existierenden Erfahrungs­satz zurückgegriffen. „Zudem liegen dem (…) Urteil widersprüchliche Annahmen bezüglich der durch die Angekl. vorgenommenen Gefahreinschätzungen zugrunde. Einerseits ging das LG davon aus, dass die Angekl. sich selbst in ihren Fahrzeugen sicher gefühlt und keinerlei Eigenrisiko in Rechnung gestellt hätten; andererseits hat das LG ausgeführt, dass die Angekl. mit dem Vorsatz bzgl. [K] gehandelt bzw. sogar‚ in Kauf‘ genommen hätten, dass sie sogar tödliche Verletzungen erleiden könnte.“ Da sich K bei der Tatbegehung auf dem Beifahrersitz des N befand, hat das LG bezgl. der Insassen desselben Fahrzeuginnenraums zwei einander widersprechende Gefahreinschätzungen vorgenommen. (Rn. 26)

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