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BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 256/20 (Zum Beginn des Lebens und dem Anwendungs­bereich der §§ 211 ff. StGB bei einem Kaiserschnitt)

Sachverhalt:

S ist mit Zwillingen schwanger gewesen. Bei einem der Zwillinge wurde eine Hirnschädigung festgestellt und damit eine schwere Entwicklungs­störung. Der andere Fetus wies demgegenüber eine normale Entwicklung aus.

Die S wurde von den fach­lich versierten Geburtsmedizinern R und V über die Möglichkeit eines medizinisch anerkannten selektiven Fetozid aufgeklärt. Dabei wird die Nabelschnur des betroffenen Fetus noch vor dem Einsetzen der Wehen im Mutterleib mittels elektrischer Spannung verschlossen. Der Fetus stirbt daraufhin ab, verbleibt aber bis zur Geburt im Mutterleib. Der Eingriff sollte erst ab der 34. Schwangerschafts­woche vorgenommen werden, um dem gesunden Zwilling Zeit zur Entwicklung zu geben. Die S entschloss sich, den Fetozid durchführen zu lassen.

In der 32. Schwangerschafts­woche setzten jedoch Wehen ein. V und R entschlossen sich gemeinsam, einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Nach der Öffnung der Gebärmutter wurde der gesunde Zwilling entnommen. Anschließend töteten sie den anderen Zwilling durch Injektion von 20 ml Kaliumchloridlösung in die Nabelvene. Den toten Zwilling hoben sie aus der Gebärmutter und nabelten ihn ab. Im Operations­bericht vermerkten V und R „Totgeburt“.

Beiden war bewusst, dass sie sich durch diese medizinisch nicht vorgesehene Operations­methode über geltendes Recht hinwegsetzten und einen Menschen töteten. Dies nahmen sie in Kauf, um den Wunsch der S, nur ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, umzusetzen. Der getötete Zwilling war lebens­fähig, es wären bei ihm aber schwere Behinderungen zu erwarten gewesen. Andere Verfahren zur Durchführung eines selektiven Fetozids wären mit höheren Risken für den gesunden Zwilling verbunden gewesen.

Fraglich ist, ob das Tun der beiden als Totschlag zu werten ist.

Der Beginn des Lebens [Rn. 13–18]

Entscheidend dafür ist, ob der getötete Zwilling im Zeitpunkt der tödlichen Ein­wirkung bereits ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB war und nicht mehr eine lediglich von § 218 StGB geschützte Leibesfrucht.

Die Abgrenzung wird seit jeher vom Beginn der Geburt abhängig gemacht. Abgeleitet wurde dieses Ergebnis aus § 217 StGB aF, der die Tötung eines unehelichen Kindes „in oder gleich nach der Geburt“ unter Strafe stellte. Mit der Abschaffung von § 217 StGB aF sollte sich an dieser Rechts­lage nach dem Willen des Gesetzgebers nichts ändern. Auch der Bundes­gerichtshof hat nach Aufhebung von § 217 StGB aF an der bisherigen Begriffs­bestimmung festgehalten.

In der Literatur wird allerdings teilweise vertreten, dass nicht der Beginn, sondern die Vollendung der Geburt den Über­gang zwischen Schwangerschafts­abbruch und Tötungs­delikten markieren müsse. Begründet wird dies mit dem Wortlaut des Gesetzes, der auf den in der Natur der Sache liegenden Unter­schied zwischen bereits (vollständig) geborenem und ungeborenem Leben verweise.

Im Einklang mit dem überwiegenden Teil der Lehre ist an dem Geburtsbeginn als maßgeblicher Zäsur zwischen §§ 211 ff. StGB und § 218 StGB festzuhalten, weil das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburts­phase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Ein­wirkungen – bedarf. Dies ist mit dem Wortlaut von § 218 StGB ohne weiteres vereinbar. Dass im Zivilrecht die Rechts­fähigkeit erst ab Vollendung der Geburt beginnt (§ 1 BGB), ist aufgrund des abweichenden Regelungs­zwecks von Zivil- und Strafnormen nicht ausschlaggebend.

Der Beginn der Geburt [Rn. 20–26]

Als Beginn der Geburt sieht der Bundes­gerichtshof bei natürlichem Geburtsverlauf das Einsetzen der Eröffnungs­wehen an. Wann bei einem – vor Beginn der Eröffnungs­wehen vorgenommenen – Kaiserschnitt die Geburt und damit der Anwendungs­bereich der §§ 211 ff. StGB beginnt, ist bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden.

In der Literatur wird der Beginn der Geburt beim Kaiserschnitt teilweise schon in der Einleitung der Narkose zur Öffnung der Bauchdecke angesehen. Demgegenüber nimmt die ganz überwiegende Auffassung an, bei einer operativen Entbindung beginne die Geburt mit der Öffnung des Uterus.

Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Entscheidend hierfür ist, dass mit der Öffnung des Uterus ein Abbruch des begonnenen Geburtsvorgangs regelmäßig praktisch nicht mehr in Betracht kommt. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um ein Kind oder mehrere Kinder handelt. Diese objektive Grenzziehung bedarf aufgrund der medizinischen Möglichkeiten, den Uterus zu fetalchirurgischen Zwecken zu öffnen und wieder zu verschließen, um die Schwangerschaft anschließend fortdauern zu lassen, einer Einschränkung. Dies ist insbesondere bei zeitversetzten Geburten von Mehrlingen zu beachten. In subjektiver Hinsicht muss die Gebärmutter zu dem Zweck geöffnet werden, den Fetus dauerhaft vom Mutterleib zu trennen und damit die Schwangerschaft zu beenden.

Subsumtion

Im vorliegenden Fall war der getötete Zwilling im Zeitpunkt der tödlichen Ein­wirkung bereits ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB.  Die Geburt des getöteten Zwillings hatte durch die Öffnung der Gebärmutter bereits begonnen. R und V haben bei der tödlichen Ein­wirkung auch vorsätzlich gehandelt. Rechtfertigungs- und Entschuldigungs­gründe sind nicht ersichtlich. Insbesondere bestand für den ersten Zwilling zum Zeitpunkt der Tötung keine Gefahr mehr.

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