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BGH, Urt. v. 18.06.2020 – 4 StR 482/19: Fortsetzung – Zum Nachweis des Tötungs¬vorsatzes in den sog. „Raser-Fällen“

Zur Bedeutung der Eigengefährdung für das Vorliegen von bedingtem Tötungs­vorsatz bei riskanten Verhaltensweißen im Straßenverkehr sowie zum Zeitpunkt des Vorsatzes.

Sachverhalt:

Die beiden Angekl. N und H befuhren nachts mit ihren Fahrzeugen den Kurfürstendamm in Berlin. Als sie an einer roten Ampel nebeneinander zum Stehen kamen, verabredeten sie spontan ein Autorennen. Dabei nahm H die Beifahrerin K im Fahrzeug des N wahr. Bei der gegenseitigen Verfolgung überschritten die Angekl. die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich und missachteten mehrere rote Ampeln. Als H (mit 139–149 km/h) und N (mit 160–170 km/h) bei rotem Ampelsignal in eine Kreuzung einfuhren, kollidierte das Fahrzeug des H mit dem Fahrzeug des W, welcher regelkonform bei grünem Ampelsignal in die Kreuzung eingefahren war. W zog sich dadurch schwere Verletzungen zu und starb noch am Unfallort. Zudem wurde K erheblich verletzt.

Das LG verurteilte N und H  im ersten Rechts­gang wegen Mordes mit gemeingefährlichen Mitteln in Mittäterschaft (§§ 211 II, 25 II StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (224 I Nrn. 2 u. 5 StGB) sowie wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c II Nr. 2a u. d StGB). Auf ihre Revision hob der BGH mit Urteil vom. 1. März 2018  das Urteil des LG mit den Feststellung auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Schwurgerichtskammer des LG zurück. Im zweiten Rechts­gang hat das LG N und H wiederum jeweils wegen Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs zu lebens­langer Freiheitsstrafe verurteilt. Dies hält der rechtlichen Nach­prüfung nur teilweise stand.

Der BGH hat nach Verhandlungen nun das Urteil gegen N mit den Feststellungen aufgehoben. Die Revision des H hingegen wurde verworfen, jedoch der Schuldspruch dahin gehend geändert, dass der H des Mordes (§ 211 II StGB) in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c II Nr. 2a u. d StGB) und mit fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) schuldig ist.

Aus den Gründen:

Bezüglich der Anklage des N stellt der BGH fest, dass ein gemeinsam auf die Tötung eines Menschen gerichtete Tatentschluss nicht gegeben war. Angesichts der sehr kurzen Zeitspanne bis zum Unfall sowie der Fokussierung der Angeklagten auf das bevorstehende Rennende und den Renngewinn liegt eine solche, auf die Tötung eines Menschen gerichtete konkludente Erweiterung des gemeinsamen Tatentschlusses der Angeklagten fern. Der Revision wird stattgegeben.

Bezüglich der Anklage des H misst der BGH besondere Bedeutung der Feststellung des bedingten Vorsatzes bei. In seinem zweiten Leitsatz formuliert der BGH:

„Für die Prüfung, ob ein Unfallgeschehen mit tödlichen Folgen vom bedingten Vorsatz des Täters umfasst war, kommt es daher darauf an, ob er den konkreten Geschehensablauf als möglich erkannt und die damit einhergehende Eigengefahr hingenommen hat. Ist dies der Fall und verwirklicht sich dieses Geschehen, ist es für die Prüfung der Vorsatzfrage unerheblich, ob er weitere Geschehensabläufe, die aus seiner Sicht mit einer höheren und deshalb von ihm nicht gebilligten Eigengefahr verbunden waren, ebenfalls für möglich erachtet hat.“ 

Im ersten Leitsatz heißt es dazu:

Die Bewertung der Eigengefährdung durch den Täter kann abhängig von seinem Vorstellungs­bild über mögliche Tathergänge abgestuft sein; so kann er bei Fassen des Tatentschlusses einen bestimmten gefahrbegründenden Sachverhalt hinnehmen, während er auf das Ausbleiben eines anderen, für ihn mit einem höheren Risiko verbundenen Geschehensablaufs vertraut.“

Für die Beurteilung, ob ein Täter mit Vorsatz oder Fahrlässigkeit gehandelt hat bedeutet dies, dass eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände vorzunehmen ist. Hierbei ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters, dessen psychischer Verfassung bei der Tatbegehung und seiner Motivlage auseinandersetzt. [Rn. 23]

Ein wesentlicher vorsatzkritischer Umstand kann bei einer drohenden Gefahr für die eigene körperliche Integrität des Angeklagten gegeben sein. [Rn. 31]

Nach den von der Rechts­prechung entwickelten Grundsätzen kann bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraute (...). Es kommt folglich darauf an, ob und in welchem Umfang aus Sicht des Täters aufgrund seines Verhaltens eine Gefahr (auch) für seine eigene körperliche Integrität drohte. [Rn. 32] Die vorgestellte Eigengefahr kann ein Indiz für das Vertrauen des Täters sein, dass der die Eigengefahr begründende Geschehensablauf gerade nicht eintreten wird. [Rn. 33]

Die Bewertung der Eigengefährdung durch den Täter kann abhängig von seinem Vorstellungs­bild über mögliche Tathergänge abgestuft sein. So kann ein Täter ohne Weiteres bei Fassen des Tatentschlusses einen bestimmten gefahrbegründenden Sachverhalt […] hinnehmen, während er auf das Ausbleiben eines anderen, für ihn mit einem höheren Risiko verbundenen Geschehensablaufs […] vertraut. Für die Prüfung, ob ein konkretes Geschehen mit tödlichen Folgen vom bedingten Vorsatz umfasst war, kommt es daher entscheidend darauf an, ob der Täter einen bestimmten Geschehensablauf als möglich erkannt und die mit diesem Geschehensablauf einhergehende Eigengefahr hingenommen hat.[Rn. 35]

N hat im vorliegenden Fall das mögliche Unfallszenario erkannt. Er hat das damit verbundene Risiko einer Eigengefährdung auch erkannt und billigend in Kauf genommen. Die erkannte und in Kauf genommene Eigengefährdung kann somit nach BGH nicht als ein den Vorsatz ausschließendes Kriterium einschlägig sein.

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