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BGH, Urteil v. 19.08.2020 – 5 StR 219/20: Zur Rechts­folgenlösung bei der Heimtücke

Sachverhalt:

Der Angekl. A erschoss am 27. Juni 2019 in Tötungs­absicht aus etwa zweieinhalb Metern den unbewaffneten und von dem tödlichen Angriff völlig überraschten C. Hierzu kam es wie folgt:                                

Der unter anderem wegen Betäubungs­mitteldelikten, Raub, räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz vorbestrafte A fuhr im Frühsommer 2019 mit seinem Bekannten B nach Holland, um ihn dort in Kontakt mit einem Drogenlieferanten zu bringen. B schloss mit dem ihm vom A vermittelten Lieferanten ein Drogengeschäft unbekannten Umfangs ab. Nach dem Erhalt minderwertiger Ware forderte B vom A die Erstattung des von ihm investierten Geldes in Höhe von etwa 12.000 Euro. Der A wies die Forderung zurück, weil er als bloßer Vermittler keine Verantwortung für die Qualität der gelieferten Drogen trage.

B fühlte sich vom A hintergangen und drohte, für ihn tätige „Moldawier“ einzuschalten und den A „abknallen“ zu lassen. Ein bis zwei Wochen vor der Tat bedrohte B den A mit einem Schraubendreher. Schließlich beauftragte B den mit ihnen befreundeten C damit, die angebliche Schuld beim A einzutreiben. C sprach die ihm bekannten muskulösen russischen Zeugen D und H mit der Bitte an, ihn zu einem Treffen mit dem A zu begleiten, um eine Drohkulisse aufzubauen und den Druck auf den A zu erhöhen.

Am Tattag erhielt A einen Anruf von C, der ihm mitteilte, dass er „die Schulden von dem B übernommen“ habe und sich deshalb mit ihm treffen wolle. Der A stimmte dem Treffen zu. Allerdings breiteten sich in ihm Furcht und Anspannung aus. Hintergrund war das letzte Zusammentreffen mit C, der ihm im Sommer 2017 im Rahmen eines Streits um die Rückzahlung von 5.000 Euro eine Pistole an den Kopf gehalten hatte. Vor dem Hintergrund bewaffnete A sich mit einer geladenen Pistole.

Gegen 19.00 Uhr trafen die Beteiligten auf dem Markt­platz aufeinander. Der A war überrascht, dass C nicht allein gekommen war. C, D und H waren unbewaffnet, weil sie nicht mit einem gewalttätigen Angriff auf dem belebten Platz rechneten. Zwischen dem A und C entwickelte sich ein Streitgespräch über die angebliche Forderung. Als der A erneut betonte, dass er das Geld nicht schulde und daher nichts zahle, erwiderte C, dass der A sehen werde, was er davon habe. Spätestens jetzt entschloss sich der durch die zahlenmäßig überlegene Gruppe eingeschüchterte A dazu, die mitgeführte Waffe zu ziehen. Er war in Sorge, man könne gegen ihn körperlich vorgehen, und wollte eine Schlägerei um jeden Preis vermeiden. Ihm war aber klar, dass keiner der drei unmittelbar zu einem konkreten Angriff ansetzte.

In dieser Situation zog er die Pistole, machte wenige Schritte um seine überraschten Gegner herum und schoss zweimal gezielt auf C um diesen zu töten. Dabei war ihm klar, dass der Angriff sein Opfer und dessen Begleiter völlig unvorbereitet traf. Ihm kam es aber gerade darauf an, etwaigen Attacken seitens der ihm überlegenen Gruppe mit Hilfe des Überraschungs­effekts zuvorzukommen und eine Gegenwehr von vorneherein auszuschalten. C verstarb an den Folgen der beiden Treffer noch vor Ort.

Das LG hat die Tat als heimtückisch begangenen Mord gewertet. Fraglich ist, ob sich der Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB entsprechend § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB verschoben hat, weil außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine Verhängung lebens­langer Freiheitsstrafe bei dem hier allein vorliegenden Mordmerkmal der Heimtücke als un­verhältnismäßig erscheinen ließen.

Der BGH führt dazu aus [BGH, Beschluss vom 19. Mai 1981 – GSSt 1/81, BGHSt 30, 105, sogenannte „Rechts­folgenlösung“]:

Die verfassungs­konforme Rechts­anwendung gebietet die Ersetzung der lebens­langen Freiheitsstrafe durch einen für Strafzumessungs­erwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungs­weise mit Entlastungs­momenten zusammentrifft, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führten, auf Grund welcher die Verhängung lebens­langer Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungs­rechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheinen würde.

Allerdings kann nicht jeder Entlastungs­faktor, der nach § 213 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles zu führen vermag, genügen. Vielmehr kann das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungs­faktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, dass jener „Grenzfall“ (BVerfGE 45, 187, 266 f.) eintritt, in welchem die Verhängung lebens­langer Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich geminderter Schuld un­verhältnismäßig ist. [Rz. 14]

Der BGH hat diese Maßstäbe weiter konkretisiert:

Der Beschluss hat nichts daran geändert, dass im Regelfall für eine heimtückisch begangene Tötung auf lebens­lange Freiheitsstrafe zu erkennen ist. Durch die Entscheidung wurde nicht allgemein ein Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle eingeführt. Die in dem Beschluss entwickelten Grundsätze betreffen nach der Rechts­prechung des BGH vielmehr nur solche Fälle, in denen das Täterverschulden soviel geringer ist, dass die Verhängung der lebens­langen Freiheitsstrafe das verfassungs­rechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens missachten würde. Es müssen deshalb schuldmindernde Umstände besonderer Art vorliegen, die in ihrer Gewichtung gesetzlichen Milderungs­gründen vergleichbar sind (vgl. BGH, Urteile vom 10. Mai 2005 – 1 StR 30/05, aaO; vom 22. September 1983 – 4 StR 369/83, NStZ 1984, 20). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Tatrichter aufgrund einer umfassenden Würdigung der Tat sowie der zu ihr hinführenden Umstände zu prüfen (BGH, aaO). [Rz. 15]

Diesen Maßstäben genügt die angefochtene Rechts­folgenentscheidung nicht:

Das LG hat als außergewöhnliche Maßstäbe in diesem Sinne benannt: Nach der Auseinandersetzung 2017 und als A sich bei dem Treffen mit C auf einmal mit den kräftig gebauten D und H konfrontiert gesehen habe, habe er nachvollziehbar den Schluss gezogen, dass die Forderung mit Nachdruck und notfalls unter Einsatz von Gewalt eingetrieben werden sollte. Weil er selbst in das Drogengeschäft verwickelt gewesen sei, aus dem die erpresserische Forderung hergeleitet worden sei, habe die Einschaltung der Polizei für ihn nicht nahe gelegen, weil er sich damit dem Risiko erneuter Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Er sei zwar an der Situation „nicht gänzlich schuldlos“ gewesen, weil er das Drogengeschäft vermittelt habe; gleichwohl habe er nicht den Konflikt gesucht. Er habe sich einem zahlenmäßig überlegenen Gegner gegenübergesehen, dem er nicht offen, sondern nur durch Ausnutzung eines Überraschungs­effekts habe gegenübertreten können. Wenn er in dieser Drucksituation in Angst und Verzweiflung verfallen sei, erscheine es unangemessen, auf seine spontane, nicht durch Notwehr gerechtfertigte „Überreaktion“ mit der Verhängung einer lebens­langen Freiheitsstrafe zu reagieren. [Rz. 17]

Zudem handele es sich in verschiedener Hinsicht um einen Grenzfall. Zwar liege eine Notwehrlage ebenso wenig vor wie die Voraussetzungen einer normativ einschränkenden Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Heimtücke. Die vom A entwickelte emotionale Anspannung erreiche weder die Intensität eines Affekts noch komme eine Entschuldigung nach § 33 StGB in Frage. Allerdings fehle es insoweit jeweils lediglich an wenigen Umständen. Eine Gesamtschau all dessen lasse es bei einem Abgleich mit sonstigen Fällen heimtückischer Tötungen als un­verhältnismäßig erscheinen, die Rechts­folge des § 211 Abs. 1 StGB anzuwenden. [Rz. 18]

Das LG hat bei dieser Würdigung jedoch den falschen Maßstab angelegt und wichtige Umstände der Tat außer Acht gelassen: Ganz entscheidend gegen eine derart strafmildernde Berücksichtigung der konkreten Drucksituation spricht das strafbare Vor­verhalten des Angeklagten, das letztlich dem Konflikt zugrunde lag und vom Landgericht bei der Abwägung verschiedener Gesichtspunkte nicht ausreichend in seiner Bedeutung erfasst worden ist.

Obwohl der Angeklagte unter zweifacher einschlägiger Bewährung stand, hat er eine strafbare Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungs­mitteln in nicht geringer Menge (vgl. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 27 StGB) begangen. Da Konflikte um die Qualität des Rauschgifts oder etwaige Rückzahlungen für das kriminelle Drogenmilieu nicht untypisch sind, lag die Ursache für die nachfolgende Entwicklung zunächst allein in einer Straftat des Angeklagten. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte sei deshalb an der weiteren Entwicklung „nicht gänzlich schuldlos“ gewesen, verkennt das Gewicht seines vorwerfbaren Vor­verhaltens. [Rz. 19 ff.]

Entgegen der Auffassung des LG war es dem A in dieser Situation auch ohne weiteres zuzumuten, sich staatlicher Hilfe gegen den Erpressungs­versuch zu versichern, auch wenn er sich damit womöglich dem Risiko erneuter Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Denn dies hatte er letztlich selbst verschuldet. Dass das heimtückische Handeln des A angesichts der Überzahl seiner Gegner in gewisser Weise „unausweichlich“ gewesen wäre, erschließt sich angesichts dieses Vor­verhaltens nicht ohne weiteres. [Rz. 22]

Außer Acht gelassen hat das LG bei der erforderlichen Gesamtwürdigung auch folgende, in diesem Zusammenhang gegen den Angeklagten sprechende Gesichtspunkte, die der Tat ihr konkretes Gepräge verleihen: Der Angeklagte hat mit Tötungs­absicht gehandelt (…) und ist bereits mehrfach wegen Gewaltverbrechen vorbestraft. Die Schüsse wurden in der zu dieser Zeit belebten Innenstadt abgegeben. Die Tat war demnach geeignet, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit ganz besonders gravierend zu stören. [Rz. 24]

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