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BVerfG, Urt. v. 19.08.2020 – 1 BvR 2249/19: Zur Beleidigung durch die Bezeichnung als „Trulla“

Sachverhalt:

Der B befindet sich nach der Verbüßung langjähriger Freiheitsstrafen in Sicherungs­verwahrung, in der er ein Taschengeld von 60 bis 65 Euro pro Monat erhält. Wegen Computer­problemen war das für seine Einkäufe in der Einrichtung verfügbare Geld noch nicht so gebucht, dass es für den Folgemonat zur Verfügung stand. Der B befürchtete, dass dieses Geld nicht für einen Einkauf zur Verfügung stehen und seine bereits abgesetzte Bestellung nicht zur Ausführung gelangen könnte mit der Folge, dass er die nächste Einkaufs­möglichkeit würde abwarten müssen. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, suchte der B an diesem Tag in aufgeregtem Zustand das Dienstzimmer der Z auf. Da er das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen nicht zu dieser durchzudringen, wurde er wütend und bezeichnete die Z nach den Feststellungen des Amtsgerichts im Rahmen eines Wortschwalls als „Trulla“.

Das Amtsgericht verurteilte den B deshalb wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 2 Euro. Die Berufung des B, in der auf die verfassungs­rechtlichen Vorgaben zur Meinungs­freiheit hingewiesen worden war, wurde vom Landgericht mit Beschluss gemäß § 313 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StPO als unzulässig verworfen.

Die Verfassungs­beschwerde richtet sich gegen das Urteil des Amtsgerichts und den Verwerfungs­beschluss des Landgerichts. Der B rügt die Verletzung seines Rechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

Beurteilung des Bundes­verfassungs­gerichts:

Die strafgerichtliche Verurteilung des B wegen Beleidigung greift in dessen Grundrecht auf Meinungs­freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ein. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutz­bereich des Grundrechts. Die strafrechtliche Sanktionierung knüpft an diese dementsprechend in den Schutz­bereich fallende und als Werturteil zu qualifizierende Äußerung an und greift damit in die Meinungs­freiheit des Beschwerdeführers ein. [Rn. 11]

Das Amtsgericht führte aus, dass die Bezeichnung als „Trulla“ grundsätzlich ehrverletzenden Charakter habe. So werde das Wort „Trulla“ im allgemeinen Sprach­gebrauch verwendet, um abwertend über weibliche Personen zu sprechen, überwiegend in Assoziation mit einer unter­stellten Unordentlichkeit der adressierten Person. Das Amtsgericht folgte dieser Urteilsbegründung. Die Berufung sei offensichtlich unbegründet, da für jeden Sachkundigen anhand der Urteilsgründe und der Berufungs­begründung sowie des Protokolls der Hauptverhandlung erster Instanz ohne längere Prüfung erkennbar sei, dass das Urteil sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden sei und keine Verfahrensfehler vorlägen, die die Revision begründen würden. [Rn. 3 f.]

Dadurch wird der Eingriff in das Grundrecht des B aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG wurde von den Strafgerichten schon gar nicht als einschlägig erkannt und ist mit der vom Amtsgericht gegebenen und vom Landgericht übernommenen Begründung verfassungs­rechtlich nicht gerechtfertigt. [Rn. 12]

Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet das Grundrecht der Meinungs­freiheit seine

Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze und in dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehört auch § 185 StGB, auf den sich die angegriffenen Entscheidungen stützen. [Rn. 13]

Grundsatz: Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungs­freiheit und der persönlichen Ehre

Bei Anwendung dieser Strafnorm auf Äußerungen im konkreten Fall verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zunächst eine der Meinungs­freiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung. Darauf aufbauend erfordert das Grundrecht der Meinungs­freiheit als Voraussetzung einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungs­freiheit auf der anderen Seite drohen. [Rn. 14]

Ausnahme: Formalbeleidigung und Schmähkritik

Abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungs­freiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf.

Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungs­freiheit und Ehre erfordern regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung. Schmähkritik im verfassungs­rechtlichen Sinn ist gegeben, wenn eine Äußerung keinen nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Dies sind Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen. [Rn. 15 f.]

Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, letztlich als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient. Demnach sind Herabsetzungen in der Ehre, auch wenn sie besonders krass und drastisch sind, nicht als Schmähung anzusehen, wenn sie ihren Bezug noch in sachlichen Auseinandersetzungen haben. Dass die Einordnung ehrkränkender Äußerungen als Schmähung eine eng zu handhabende Ausnahme bleibt, entspricht dem Grundsatz des Ausgleichs von Grundrechten durch Abwägung. [Rn. 17]

Die eine Abwägung entbehrlich machende und damit die Meinungs­freiheit verdrängende Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik gebietet es, diese Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen, gehaltvollen und verfassungs­rechtlich trag­fähigen Weise zu begründen. [Rn. 18]

Hält ein Gericht eine Äußerung ohne hinreichende Begründung für eine Schmähung, ohne hilfsweise eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen zu haben, so liegt darin ein verfassungs­rechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht. [Rn. 19]

Subsumtion

Diesen verfassungs­rechtlichen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht. [Rn. 22]

Verfassungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist die von Amts- und Landgericht bejahte Einordnung der Äußerung als ehrkränkend. Dass die angegriffenen Entscheidungen die Bezeichnung der Z als „Trulla“ in dem situativen Kontext der Äußerung als ehrverletzend

angesehen haben, hält sich im fach­gerichtlichen Wertungs­rahmen. Das Amtsgericht hat gesehen, dass die Äußerung auch in einem nicht ehrverletzenden Sinn verstanden werden könnte, eine solche Deutung aber mit verfassungs­rechtlich trag­fähigen Gründen in der konkreten Situation ausgeschlossen. [Rn. 23]

Demgegenüber fehlt es der Entscheidung an einer Abwägung des Persönlichkeits­rechts mit der Meinungs­freiheit unter Würdigung der konkreten Umstände des Falles und hierbei der Situation, in der die Äußerung erfolgte. Das Amtsgericht scheint vom Vorliegen einer Schmähkritik auszugehen, die eine Abwägung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungs­freiheit auf der anderen Seite drohen, entbehrlich macht. Dass und aus welchen Gründen dies hier der Fall sein könnte, legt es indes nicht nachvollziehbar dar. Für das Vorliegen des Sonderfalls einer Schmähung ist auch in der Sache nichts ersichtlich. Erst recht scheint das Absehen von einer Abwägung unter dem Gesichtspunkt der Formalbeleidigung hier fernliegend. [Rn. 24]

Aus den Feststellungen des Amtsgerichts ergibt sich, dass es dem B, der gegenüber der Z weder vor noch nach dieser Begebenheit jemals beleidigend aufgetreten ist, darum ging, die rechtzeitige Buchung des für seinen Einkauf verwendbaren Geldes zu veranlassen, damit bereits abgesetzte Bestellungen ausgeführt werden könnten, so dass er nicht bis zur nächsten Einkaufs­möglichkeit zuwarten müsste. Nach den weiteren Feststellungen des Amtsgerichts hatte der B einschlägige Erfahrungen mit diesem Missstand. Er hatte die Z eigens aufgesucht, um auf diesen aufmerksam zu machen, und war aufgrund der Befürchtung, die bestellten Lebens­mittel nicht zu erhalten, bereits in aufgeregter Stimmung bei ihr eingetroffen. Aufgrund seines Eindrucks, bei der Z mit seinem Anliegen nicht durchzudringen, wurde er wütend. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Äußerung noch als Teil einer sach- und anlassbezogenen Auseinandersetzung dar. Das schließt die Annahme einer Schmähkritik aus, weshalb unter näherer Würdigung der Umstände der Äußerung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechten erforderlich gewesen wäre. [Rn. 25]

Die fehlende Abwägung wurde nicht durch das Landgericht in dem Beschluss nachgeholt, mit dem die Berufung des B als unzulässig verworfen wurde. Mit den konkreten Umständen der Äußerung, insbesondere dem Anlass des Gesprächs sowie der situativ bedingten emotionalen Anspannung des Beschwerdeführers, setzt sich das Landgericht nicht auseinander. [Rn. 26]

 

 

Zurückverweisung an das Landgericht

 

Das Ergebnis der von den Fach­gerichten vorzunehmenden Abwägung ist verfassungs­rechtlich nicht vorgegeben. Aufgabe des Bundes­verfassungs­gerichts ist es lediglich zu überprüfen, ob die Fach­gerichte dabei Bedeutung und Tragweite der durch die strafrechtliche Sanktion betroffenen Meinungs­freiheit ausreichend berücksichtigt und innerhalb des ihnen zustehenden Wertungs­rahmens die jeweils für den Fall erheblichen Abwägungs­gesichtspunkte identifiziert und ausreichend in Rechnung gestellt haben. [Rn. 21]

Es ist dem Bundes­verfassungs­gericht grundsätzlich verwehrt, die gebotene Abwägung selbst vorzunehmen, da sie Aufgabe der Fach­gerichte ist, denen dabei ein Wertungs­rahmen zukommt. Daher ist mit der Feststellung, dass die angefochtenen Entscheidungen die Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit des Beschwerdeführers verkennen, keine Aussage darüber verbunden, ob die inkriminierte Aussage im konkreten Kontext gemäß § 185 StGB strafbar ist oder nicht. [Rn. 28]

Die Entscheidungen der Strafgerichte werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.