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BGH Beschl. v. 17. März 2021 – 4 StR 155/20 – Misshandlung von Schutz­befohlenen

Sachverhalt (Rn. 2–6)

Die Angeklagten N. R. und I lebten mit ihrem am 28. August 2018 geborenen Sohn M. R. in einer kleinen Wohnung in Ludwigshafen. Einer der beiden Angeklagten misshandelte den Säugling im Vorfeld der Tat mehrfach, ohne dass festgestellt werden konnte, welcher der beiden Angeklagten durch welche konkreten Handlungen dem Säugling Verletzungen zufügte. Spätestens nachdem die teilweise massiven und teils sichtbaren Verletzungen, entstanden waren, nahm auch derjenige der beiden Angeklagten, der dem Säugling diese massiven Verletzungen nicht selbst zugefügt hatte, billigend in Kauf, dass der Säugling durch den Verursacher dieser Verletzungen auch in Zukunft misshandelt werden könnte.

Zwischen dem 13. und dem 15. Oktober 2018 fügte einer der beiden Angeklagten dem Säugling mehrere schmerzhafte Rissverletzungen nahe der Peniswurzel zu. Darüber hinaus wurde dem Säugling „eine weitere Verletzung im Windel­bereich“ sowie Verletzungen an Kopf, Rumpf und an den Beinen zugefügt. Einer der beiden Angeklagten stieß dem Säugling ferner ein Fieberthermometer wuchtig und tief in den Anus, wodurch die Darmwand perforiert wurde.

Obwohl die beiden Angeklagten spätestens am frühen Morgen des 15. Oktober 2018 Kenntnis von der Penisverletzung hatten und ihnen bewusst war, dass ihr Sohn dringend ärztlicher Hilfe bedurfte, begaben sie sich nicht sofort zum Kinderarzt, dessen Praxis um 8.00 Uhr öffnete. Als sie gegen 9.15 Uhr mit dem Säugling in der Praxis eintrafen, wiesen sie beim Aufnahmegespräch nicht auf die schmerzhafte und blutende Penisverletzung des Säuglings hin, sondern gaben an, dass er fiebere, sich erbreche und „Wunden  an der Phimose“ habe. Aufgrund ihrer unzureichenden Angaben wurde der Säugling nicht als dringend behandlungs­bedürftig angesehen und in der Behandlungs­reihenfolge vorgezogen. Die Angeklagten nahmen das durch die verzögerte ärztliche Behandlung verursachte längere Leiden ihres Sohnes billigend in Kauf.

Der Säugling wurde nach ärztlicher Unter­suchung und Feststellung unter anderem der Penisverletzung unter der Verdachtsdiagnose der Kindesmisshandlung in ein Krankenhaus eingeliefert. Das Leben des Säuglings konnte durch eine Notoperation gerettet werden

Das LG hat die Tat als Misshandlung von Schutz­befohlenen durch Unter­lassen gewertet. (Rn. 1) Beide Angeklagten hätten den Tatbestand des § 225 Abs. 1 in den Alternativen des Quälens und des rohen Misshandelns durch Unter­lassen sowie eine Gesundheitsschädigung des Säuglings durch böswillige Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht verwirklicht. (Rn. 7)

Der BGH hat die Rechts­auffassung des LG als rechts­widrig gewertet. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils tragen den Schuldspruch wegen Misshandlung von Schutz­befohlenen in allen drei Begehungs­formen des § 225 I StGB nicht. (Rn. 8)

Aus den Gründen (Rn. 9–24)

„Quälen, rohes Misshandeln und die böswillige Vernachlässigung der Fürsorgepflicht sind selbstständige Begehungs­formen der Misshandlung von  Schutz­befohlenen gemäß § 225 Abs. 1 StGB. Die Tatalternativen des Quälens  und des rohen Misshandelns können jeweils durch aktives Tun oder durch pflichtwidriges Unter­lassen verwirklicht werden (..). Bei der Tatalternative der Gesundheitsschädigung durch böswillige Vernachlässigung der Fürsorgepflicht handelt es sich um ein Unter­lassungs­delikt.“ (Rn. 9)

Das Landgericht ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, „dass in Fällen, in denen nicht festgestellt werden kann, wer von beiden Elternteilen das gemeinsame Kind im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB quälte oder  roh misshandelte, in Anwendung des Zweifelssatzes (in dubio pro reo) eine Strafbarkeit wegen Unter­lassungs­täterschaft des anderen Elternteils in Betracht kommt (…).“ (Rn. 10; vgl. Rn. 13)

Die Erwägungen des Landgerichts (Rn. 7), mit denen „das Landgericht eine Handlungs­pflicht beider Angeklagter begründet hat, weil sie von vorangegangenen Misshandlungen ihres Kindes durch den jeweils anderen Elternteil wussten und deshalb verpflichtet waren, die am Wochenende des 13. bis 15. Oktober  2018 erfolgten Misshandlungen des Säuglings durch den jeweils anderen durch  geeignete Maßnahmen zu verhindern, halten indes einer rechtlichen Über­prüfung nicht stand.“ (Rn. 10)

Das Landgericht hatte nicht „bedacht, dass eine solche Handlungs­pflicht nur besteht, wenn die früheren Misshandlungen tatsächlich durch den jeweils anderen Elternteil begangen worden sind. In diesem Fall hätte derjenige Angeklagte, der das Kind nicht selbst misshandelte, bereits im Vorfeld der neuerlichen Gewalttat geeignete Maßnahmen ergreifen müssen, um weitere drohende Über­griffe durch den jeweils anderen abzuwenden“ (Rn. 11) „Hatte hingegen der Angeklagte I. selbst die früheren Misshandlungen vorgenommen, bestand für ihn keine Verpflichtung, seinen Sohn vor der Mutter zu schützen, da nach seinem Kenntnisstand von ihr keine Gefahren für das Kind ausgingen. Gleiches gilt wiederum für die Angeklagte R.“ (Rn.12)

Das Landgericht hat somit nicht bedacht, dass „die nicht sicher festgestellte, sondern in Anwendung des Zweifelssatzes zugunsten eines jeden Angeklagten nur unter­stellte Tatsache, der jeweils andere habe den Säugling in der Vergangenheit gequält und roh misshandelt, erst die Strafbarkeit wegen Unter­lassens begründete und daher nicht zugunsten, sondern zulasten der Angeklagten wirkte!“ (Rn. 13)

Das Landgericht zutreffend davon aus, „dass der Tatbestand des Quälens und rohen Misshandelns im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB auch dadurch verwirklicht werden kann, dass  die gebotene ärztliche Hilfe durch die Eltern des Kindes nicht veranlasst wird (…).“ (Rn. 17, vgl. Rn. 7) Die Angeklagten hatten den Arzt verzögert aufgesucht und das längere Leiden des M dadurch billigend in Kauf genommen. In subjektiver Hinsicht ist jedoch insoweit erforderlich, „dass der Täter den Vorsatz hat, dem Opfer erhebliche Schmerzen oder Leiden zuzufügen, die über die typischen Aus­wirkungen hinausgehen, die mit der aktuellen Körperverletzungs­handlung verbunden sind“ (Rn.16) Dies kann den Urteilsgründen jedoch nicht entnommen werden. (Rn. 17)

Auch die Annahme, „die Angeklagten hätten durch die verspätete Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe bzw. durch unzureichende Angaben  bei dem Aufnahmegespräch ihre Fürsorgepflicht böswillig vernachlässigt und  dadurch ihren Sohn an der Gesundheit geschädigt (vgl. § 225 Abs. 1 Alternative 3 StGB),“ (Rn. 18) ist für keinen der beiden Angeklagten jedenfalls in subjektiver Hinsicht trag­fähig belegt. (Rn. 18, 20)

„Der Tatbestand des § 225 Abs. 1 Alternative 3 StGB ist gegeben, wenn der Täter durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für die schutz­bedürftige Person zu sorgen, diese an der Gesundheit schädigt. Böswillig im Sinne der Vorschrift handelt, wer seine Pflicht, für einen anderen zu sorgen, aus einem verwerflichen Beweggrund – aus Bosheit, Lust an fremdem Leid, Hass  oder aus Eigensucht – vernachlässigt (…). Gleichgültigkeit, Abgestumpftheit, Schwäche oder – wovon das Landgericht zugunsten der beiden Angeklagten jedenfalls auch ausgegangen ist – Über­forderung reichen hingegen in der Regel nicht aus.“ (Rn. 19) Die Erwägungen müssen sich auf das tatbestandliche Unter­lassen am Morgen des  15. Oktobers 2018 beziehen. Sie dürfen nicht pauschal auf das Verhalten der beiden Angeklagten vor und nach der Tat bezogen sein. (Rn. 21)

„Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird bei der Prüfung der Frage, wer von den beiden Angeklagten dem Säugling die am Wochenende des 13. bis 15. Oktober 2018 verursachten massiven Verletzungen unter anderem an Penis und After zugefügt hat, genauer als bisher geschehen in den Blick zu nehmen haben.“ (Rn. 23)

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