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BGH, Beschl. v. 04.05.2022 – 1 StR 3/21: Zur Täuschungs­handlung und zum unmittelbaren Ansetzen beim Betrug

Sachverhalt (Rz. 4 – 10)

Der Angeklagte und sein Bruder N fassten den Entschluss, auf der Grundlage von Scheinbewerbungen des Angeklagten wiederholt Entschädigungs­ansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungs­gesetz (AGG) geltend zu machen, um den Angeklagten zu bereichern und ihm eine Einnahmequelle von einiger Dauer und Erheblichkeit zu verschaffen.

Nach dem Tatplan sollte sich der 42-jährige Angeklagte zum Schein auf Stellenangebote bewerben, deren Ausschreibungen aus seiner Sicht Anhaltspunkte für eine Alters- oder sonstige Diskriminierung im Sinne des AGG boten; nach Ablehnung der Bewerbung sollte der frühere Mitangeklagte die ausschreibenden Unter­nehmen in seiner Funktion als Rechts­anwalt anschreiben und sie im Namen des Angeklagten auffordern, an diesen wegen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungs­verbot im Auswahl­verfahren eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von mindestens drei Bruttomonatsgehältern zu zahlen. Bei Ausbleiben der Zahlung sollte der behauptete Anspruch in aussichtsreichen Fällen gerichtlich weiterverfolgt werden, um auf diesem Wege die geforderte Entschädigung zu erhalten oder die beklagten Unter­nehmen zum Abschluss eines Vergleichs zu bewegen. Sowohl der Angeklagte als auch sein Bruder hielten es für möglich und nahmen billigend in Kauf, dass ein Anspruch auf Entschädigung auf der Grundlage einer bloßen Scheinbewerbung tatsächlich nicht bestand.

Der Angeklagte tätigte 12 Bewerbungen zum Schein. Allerdings kam keines der Unter­nehmen der Aufforderung nach, die Entschädigung zu zahlen, sodass gerichtliche Verfahren angestrengt wurden. 10 der Verfahren endeten mit Vergleichen. In lediglich 3 von diesen Fällen ging die Beklagtenseite irrtümlich von einer ernsthaften Bewerbung des Angeklagten aus. Eine der Klagen wurde abgewiesen und in einem Fall wurden dem Angeklagten 7000 € zugesprochen.

Aus den Gründen

Das Landgericht sah bereits im Versenden der außergerichtlichen Aufforderungs­schreiben die maßgebliche Täuschungs­handlung. Zwar enthielten diese Schreiben keine ausdrücklichen Angaben über die den Bewerbungen zugrundeliegende Motivation und daher zunächst keine unmittelbare falsche Tatsachenbehauptung; jedoch werde mit dem Einfordern der Entschädigung nach der Verkehrs­anschauung und der Erwartung des Erklärungs­empfängers konkludent auch die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung behauptet, über deren Vorliegen der Angeklagte deshalb getäuscht habe. In den Fällen, in denen von einer ernsthaften Bewerbung ausgegangen wurde, führe diese Betrugshandlung zu einer irrtumsbedingten Vermögensverfügung und damit zum vollendeten Betrug. In den anderen Fällen läge ein Versuch vor, weil die Zahlung nicht aufgrund eines täuschungs­bedingten Irrtums geleistet wurde. Das Unmittelbare Ansetzen läge hier schon im Versenden der außergerichtlichen Aufforderungs­schreiben vor. (Rz. 11 – 14)

Die Revision hat Erfolg.

Eine Täuschung kann eben nicht festgestellt werden. Täuschung ist jedes Verhalten, das objektiv irreführt oder einen Irrtum unter­hält und damit auf die Vorstellung eines anderen einwirkt. Dies kann auch konkludent dadurch erfolgen, dass der Täter die Unwahrheit zwar nicht expressis verbis zum Ausdruck bringt, sie aber nach der Verkehrs­anschauung durch sein Verhalten miterklärt und sich dadurch irreführend verhält. Der Inhalt der Erklärung bestimmt sich durch den Empfängerhorizont und die Erwartungen der Beteiligten, welche durch die Verkehrs­anschauung und den rechtlichen Rahmen geprägt werden. Auch die Geltendmachung einer Forderung, ohne einen Anspruch zu haben, kann eine Täuschung darstellen. Dies setzt voraus, dass mit dem Einfordern einer Leistung ein Bezug zu einer unzutreffenden Tatsachenbasis hergestellt oder das Vorliegen eines den Anspruch begründenden Sachverhalts behauptet wird. (Rz. 15 – 20)

Vorliegend mangelt es an einer konkludent erklärten unwahren Tatsachenbehauptung durch Versenden der außergerichtlichen Aufforderungs­schreiben. (Rz. 21)

Die Erwartungen des Verkehrs werden durch die Rechts­prechung des BAG geprägt und folgen ihnen nicht nach. Die entsprechenden Rechts­prechungen sind also nur insofern verwertbar, als sie vor dem Versenden der Aufforderungs­schreiben ergingen. (Rz. 22 – 28)

Auch das Vollständigkeits- und Wahrheitsgebot nach § 138 I ZPO kann nicht begründend wirken, weil dieses Gebot nicht für die außergerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen gilt und somit nicht den Empfängerhorizont im außergerichtlichen Bereich prägen kann. (Rz. 30)

Des Weiteren unter­stützt die Gestaltung des AGG gerade ein „private enforcement“ und im AGG gibt es keine Missbrauchsklausel wie im Gesetz zum unlauteren Wettbewerb, die die Erwartungen des Verkehrs beeinflussen könnte. (Rz. 31 – 34)

Anhaltspunkte, die in tatsächlicher Hinsicht die Annahme einer konkludenten Erklärung über die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung begründen könnten, zeigen die Urteilsgründe nicht auf. Angesichts der festgestellten tatsächlichen Gesamtumstände vermögen allein die Aspekte, dass die ausschreibenden Unter­nehmen die Motivation für die Bewerbung nicht ohne weiteres überprüfen konnten und die Entschädigung mit einem Anwaltsschreiben eingefordert wurde, nicht die Annahme zu rechtfertigen, dass mit der Geltendmachung des Entschädigungs­anspruchs die Ernsthaftigkeit der Bewerbung entgegen dem normativen Kontext miterklärt werde. (Rz. 35 f.)

Aufgrund von widersprüchlichen Aussagen der Zeugen kann auch kein Irrtum belegt werden. So kann das Fehlen einer Vorstellung zur Ernsthaftigkeit nicht zu einem Irrtum führen oder ein – grundsätzlich für einen Irrtum ausreichendes – gedankliches Mitbewusstsein begründen. (Rz. 38 – 40)

In Bezug auf die Fälle, in denen ein Versuch angenommen wurde, wurde nicht hinreichend begründet, warum ein unmittelbares Ansetzen vorliegt. Dieses liegt vor, wenn die Handlungen nach der Vorstellung des Täters in ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen oder mit ihr in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Dies ist der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ überschreitet, es eines weiteren Willensimpulses nicht mehr bedarf und er objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, so dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht, wobei auf die strukturellen Besonderheiten der jeweiligen Tatbestände Bedacht zu nehmen ist. Bei einem mehraktigen Geschehen ist erst diejenige Täuschungs­handlung maßgeblich, die den Getäuschten unmittelbar zur irrtumsbedingten Vermögensverfügung bestimmen und den Vermögensschaden herbeiführen soll; entscheidend ist, ob die Täuschung ohne weitere wesentliche Zwischenschritte in die angestrebte Vermögensverschiebung mündet oder diese nur vorbereitet. Zeitlich nachgelagerte Aspekte wie Äußerungen des N im Rahmen von Vergleichsverhandlungen, den Rechts­streit bis zum Bundes­arbeits­gericht oder sogar bis zum Bundes­verfassungs­gericht „hochzutreiben“, um die Gegenseite zum Abschluss eines Vergleichs zu bewegen, dürfen nicht zur Beurteilung herangezogen werden. (Rz. 42 – 48)

Hinweise für die neue Hauptverhandlung:

Eine Strafbarkeit wegen Betruges ist möglich, wenn der Angeklagte damit gerechnet hat, dass die entsprechenden Personen durch sein Vorbringen im Prozess getäuscht werden und diese irrtumsbedingt zu einer selbstschädigenden Vermögensverfügung veranlasst werden. (Rz. 51)

Eine Täuschung durch ausdrückliche Erklärung liegt vor, wenn der Angeklagte einen Rechts­missbrauchseinwand explizit bestritten hat oder er im Prozess schriftsätzlich hat vortragen lassen, er habe sich ernsthaft beworben. Dann kommt es nicht auf die Frage der konkludenten Täuschung an. (Rz. 52)

Leidglich mit der gerichtlichen Geltendmachung kann ein Verstoß gegen die Vollständigkeits- und Sorgfaltspflicht nach § 138 I ZPO vorliegen, was eine konkludente Täuschung begründen kann. Im Rahmen eines geregelten Verfahrens bestimmt sich der für die Frage des Vorliegens einer Täuschungs­handlung maßgebliche Empfängerhorizont durch die dem Verfahren zugrunde liegenden Vorschriften, der ZPO. Es bleibt zu klären, ob der Angeklagte bewusst gegen diese Pflicht verstoßen hat; denn nur dies unter­sagt § 138 ZPO. (Rz. 53 – 56)

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