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BGH, Beschl. v. 8.06.2022 – 5 StR 406/21: Zur Freiheitsberaubung

Sachverhalt (Rz. 5–11)

Die Angeklagte I. ist die Mutter der Geschädigten H., der Angeklagte B. deren Bruder und der Angeklagte D. ihr Onkel. Der Angeklagte Ba. ist ein Freund der Angeklagten B. und D. Sie stammen alle aus Tschetschenien, sind russische Staats­bürger und leben seit geraumer Zeit in Deutschland. Im Oktober 2018 heiratete die damals 21 Jahre alte H. einen Mann tschetschenischer Abstammung nach islamischen Recht und zog zu dessen Familie. Diese lebte – ebenso wie ihr Mann und ihre eigene Familie – streng nach traditionellen tschetschenischen Werte- und Rollenverständnissen, während das Leben der jungen Frau wesentlich von westlicher Weltanschauung geprägt war. Sie fühlte sich deshalb zunehmend eingeengt. Anfang Januar 2019 floh sie aus der Wohnung und zeigte ihren Mann wegen Vergewaltigung und Körperverletzung an. Dabei teilte sie mit, dass dieser beabsichtige, sich am Jihad in Syrien zu beteiligen. Eine Rückkehr zu ihrem Mann lehnte sie trotz nachdrücklicher Forderungen ihrer Familie ab.

Ihr Verhalten wurde bei den beteiligten Familien, aber auch in der tschetschenischen Diaspora allgemein als elementarer Bruch tschetschenischer Wert- und Rollenvorstellungen betrachtet. Im August 2019 beschlossen die Angeklagten I. , B. und D. , die Geschädigte H. zunächst nach Georgien und anschließend von dort aus nach Tschetschenien zu bringen. Sie sollte zu einer den tschetschenischen Traditionen entsprechenden Lebens­führung gebracht werden. Da den Angeklagten bewusst war, dass die Geschädigte sich dem nicht freiwillig beugen würde, spiegelten sie ihr vor, in Polen persönlich russische Pässe beantragen zu müssen. Tatsächlich sollte sie mit dem Auto zum Flughafen und dann mit dem Flugzeug nach Georgien gebracht werden. Die Flugtickets besorgte der in den Plan eingeweihte Angeklagte Ba. Die Angeklagten brachten die gutgläubige H. mit dem Auto des Angeklagten B. zum Flughafen. D. und Ba. kam dabei die Aufgabe zu, die Verbringung der ahnungs­losen Geschädigten abzusichern; Ba. löste zudem den Angeklagten B. als Fahrer ab. H. saß während der mehrstündigen Fahrt eingerahmt von Angeklagten auf der Rückbank. Bei kurzen Fahrtpausen durfte sie sich – indes stets unter den Augen der Angeklagten – im näheren Umkreis des Autos bewegen; im Falle eines Fluchtversuchs waren die Angeklagten bereit einzugreifen. Ihnen war bewusst, dass sich die Geschädigte – „jedenfalls“ solange das Auto in Bewegung war – nicht entfernen konnte. Sie wussten, dass sie sich der Reise bei Kenntnis der wahren Pläne widersetzt und bei nächster Gelegenheit das Weite oder die Hilfe Dritter gesucht hätte.

Am Flughafen begleiteten die Angeklagten die weiterhin nichts ahnende Geschädigte bis zur Flugabfertigung und Passkontrolle. Dadurch wollten sie verhindern, dass diese auf sich aufmerksam machen oder um Hilfe bitten können würde, falls sie im letzten Moment Kenntnis von dem tatsächlichen Reiseziel erlangte. Während D. und Ba. mit dem Auto zurückkehrten, flogen die beiden Mitangeklagten I. und B. mit der Geschädigten nach Georgien. H. war sich auch beim Start des Flugzeugs noch nicht über das tatsächliche Ziel und den Zweck der Reise im Klaren. Nach der Landung erkannte sie, dass sie nicht in Polen, sondern in Georgien war. Angesichts dieser Lage fügte sie sich in ihr Schicksal und fuhr mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester mit Bus und Taxi in ein bereits gemietetes Ferienhaus in einer georgischen Urlaubsregion, ohne dass Zwang auf sie ausgeübt werden musste. Spätestens am darauffolgenden Tag erklärte sie allerdings lautstark, nach Deutschland zurückkehren zu wollen. Daraufhin schlug der Angeklagte B. sie mit einem Gummischlauch und einem Holzstock, nahm ihr Reisepass und Mobiltelefon ab und erteilte ihr einen drei- oder viertägigen Hausarrest, um eine telefonische Kontaktaufnahme der jungen Frau mit deutschen Polizeibehörden und ihre Rückkehr nach Deutschland zu unter­binden. Nachdem ihre Mutter Kenntnis von erneuten Vorbereitungen einer Rückkehr nach Deutschland erlangt hatte, verprügelte sie ihre Tochter mit einem Stock.

Aus den Gründen (Rz. 19–28)

Gemäß § 239 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt. Nach der Rechts­prechung des Bundes­gerichtshofs und Teilen der Literatur schützt § 239 StGB die potentielle persönliche Bewegungs­freiheit. In sie wird auch dann eingegriffen, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht wegbewegen will. Entscheidend ist allein, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Ausschlaggebend ist mithin nur, ob der Betroffene sich ohne die vom Täter ausgehende Beeinträchtigung seiner Bewegungs­möglichkeit fortbegeben könnte, wenn er es denn wollte. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, ist danach ohne Belang.

Eine im Schrifttum weit verbreitete Meinung sieht darin eine – angesichts der durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164) eingeführten Versuchsstrafbarkeit der Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 2 StGB) – nicht (mehr) gerechtfertigte Vorverlegung des Vollendungs­zeitpunkts. Von § 239 StGB sei nur die aktuelle Fortbewegungs­freiheit geschützt. Seiner Freiheit wäre danach nur derjenige beraubt, der sich zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt wegbewegen will, aber nicht kann. Es handle sich bei dem Straftatbestand des § 239 StGB letztlich um einen Spezialfall der Nötigung.

Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Auslegung des Tatbestands der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) durch den Bundes­gerichtshof abzuweichen.

(1) Für die hierfür maßgebliche Bestimmung des geschützten Rechts­guts spricht der Wortlaut der Norm. Seiner (Bewegungs-)Freiheit ist objektiv betrachtet derjenige beraubt, der sich aufgrund des Verhaltens eines Dritten nicht wegbewegen kann, wenn er dies wollte. Eine als Zwang empfundene Willensbeugung wohnt dem Begriff der Freiheitsberaubung in objektiver Hinsicht nicht inne. Anders als die Nötigung im Sinne des § 240 StGB setzt der äußere Tatbestand des § 239 StGB nicht voraus, dass einem anderen ein von diesem nicht gewolltes Verhalten aufgezwungen wird. Opfer einer Freiheitsberaubung kann danach nicht nur derjenige sein, der gegen seinen aktuellen Willen zu einem Verbleiben an einem Ort bestimmt wird.

(2) Mit dem hohen Gut der persönlichen Bewegungs­freiheit, das durch die Einführung der Versuchsstrafbarkeit noch an Gewicht gewonnen hat, wäre es nicht in Einklang zu bringen, die Freiheitsberaubung als einen bloßen Spezialfall der milder sanktionierten Nötigung zu behandeln. Sie ist vielmehr ein eigenständiges Delikt mit eigenen Voraussetzungen, das den Einzelnen umfassend vor der Entziehung seiner Fortbewegungs­freiheit schützen soll. Dies wird durch systematische Erwägungen gestützt. Die Straftat der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) wiegt nach dem in den jeweiligen Strafrahmen zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers schwerer als die Nötigung (§ 240 StGB) und steht im Strafgesetzbuch vor ihr. Mit der Einordnung als bloßer Spezialfall des § 240 StGB ließe sich dies kaum vereinbaren.

(3) Die Einführung der Strafbarkeit des Versuchs der Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 2 StGB) gibt keinen Anlass für eine andere Auslegung. Zum einen zeigt die vorliegende Konstellation, dass der umfassende strafrechtliche Schutz vor der Entziehung der Bewegungs­freiheit dadurch nicht gewährleistet wäre. Erschleicht der Täter das Einverständnis des Betroffenen mit der Freiheitsentziehung wie hier durch List und Täuschung, fehlte es – bei einer Beschränkung des Schutz­gutes auf die aktuelle Bewegungs­freiheit – am Tatentschluss (§ 22 StGB) hinsichtlich des Merkmals der Freiheitsberaubung. Denn nach der Vorstellung des Täters will sich der Betroffene aufgrund der Täuschung aktuell nicht wegbewegen. Zum anderen verbleibt für den Versuch der Freiheitsberaubung auch dann ein Anwendungs­bereich, wenn man das geschützte Rechts­gut in der potentiellen Bewegungs­freiheit sieht. Lockt der Täter den Betroffenen in ein Zimmer, um ihn darin einzuschließen, macht er sich wegen eines (fehlgeschlagenen) Versuchs der Freiheitsentziehung strafbar, wenn ihm das Einschließen etwa mangels passenden Schlüssels oder wegen Gegenwehr des Geschädigten nicht gelingt. Zudem bleiben Fälle einer Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs denkbar.

(4) Nach alledem ist der Rechts­prechung des Bundes­gerichtshofs und den ihm folgenden Teilen der Literatur der Vorzug zu geben, wonach § 239 StGB den Schutz der potentiellen persönlichen Bewegungs­freiheit bezweckt. Das bedeutet, dass der Tatbestand lediglich ein Handeln gegen den potentiellen Fortbewegungs­willen voraussetzt.

Daraus folgt, dass ein im natürlichen Sinn zur Änderung seines Aufenthaltsorts fähiger Mensch nur dann nicht seiner Freiheit im Sinne des § 239 StGB beraubt wird, wenn er (auch) damit einverstanden ist, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er das wollte. Ist ihm dies hingegen – etwa wie hier aufgrund von List und Täuschung des seine Bewegungs­freiheit aufhebenden Täters – nicht bewusst, ist es ohne Belang, dass er sich aktuell gar nicht fortbewegen will. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Ob ein Einverständnis tatbestandsausschließend ist, muss in Bezug auf das jeweils geschützte Rechts­gut des inmitten stehenden Straftatbestands beurteilt werden. Setzt der Tatbestand ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus (z.B. § 123 StGB), schließt dessen durch Täuschung erschlichenes Einverständnis den Tatbestand aus, da dann ein Handeln gegeben ist, das – wenn auch durch List herbeigeführt – dem Willen des Berechtigten entspricht. Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potentielle Fortbewegungs­wille. Nötig ist mithin, dass sich der Betroffene der Freiheitsentziehung und der Freiheitsentziehende über das Ausmaß und die Dauer der Freiheitsentziehung einig sind. Ahnt der Betroffene hingegen nicht, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er dies wollte, ist der Tatbestand des § 239 StGB mit Blick auf das geschützte Rechts­gut der potentiellen Bewegungs­freiheit erfüllt. Ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stellt sich somit lediglich als ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestands des § 239 Abs. 1 StGB führen kann.

Subsumtion (Rz. 29–33, 42 f.)

Das Landgericht hat die Verbringung der Geschädigten für alle Angeklagten als Freiheitsberaubung auf andere Weise als durch Einsperren gewertet (§ 239 Abs. 1, § 25 Abs. 2 StGB). Das Einverständnis der Geschädigten in die Autofahrt, den Flug und den damit verbundenen Verlust der Fortbewegungs­freiheit ließe die Tatbestandsmäßigkeit nicht entfallen, weil es durch eine List erschlichen worden sei.

Das Landgericht hat die Angeklagten aufgrund der rechts­fehlerfrei getroffenen Feststellungen zu Recht der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1, § 25 Abs. 2 StGB schuldig gesprochen. Die Geschädigte H. war ihrer potentiellen Bewegungs­freiheit mit Antritt der Autofahrt in bis zum Ende der Flugreise objektiv durchgehend beraubt im Sinne des § 239 Abs. 1 StGB.

Die Wertung des Landgerichts, die Geschädigte habe sich „jedenfalls“ nicht entfernen können, solange das Auto in Bewegung war, und sei daher ihrer Bewegungs­freiheit beraubt gewesen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Angesichts ihrer Sitzposition im Auto zwischen zwei Angeklagten, ihrer durchgehenden Bewachung durch die Angeklagten, die bereit waren, Fluchtversuche – wie die Geschehnisse in Georgien belegen – mit roher Gewalt zu unter­binden, hätte sie sich weder bei kurzen Fahrtpausen noch bei einem verkehrs­bedingten Halt oder am Flughafen entfernen können. Für den Flug nach Georgien selbst liegt dies auf der Hand. Entgegen den Revisionen stellen weder die kurzen Pausen während der Autofahrt noch der Aufenthalt am Flughafen bis zum Besteigen des Flugzeugs eine für den Tatbestand des Dauerdelikts des § 239 StGB relevante Zäsur dar.

(2) Wie oben dargestellt ist es im Hinblick auf die von § 239 StGB geschützte potentielle Bewegungs­freiheit ohne Belang, dass die Geschädigte sich während der Reise nicht von den Angeklagten wegbewegen wollte. Angesichts ihrer Fluchtbemühungen nach der Kenntniserlangung des wahren Reisezwecks und -ziels ist das Landgericht indes rechts­fehlerfrei davon ausgegangen, dass die Geschädigte ohne die List und Täuschung der Angeklagten den Willen gehabt hätte, sich ihrer Verbringung (unter objektiv freiheitsberaubenden Umständen) nach Georgien zu entziehen.

Die innere Tatseite der Freiheitsberaubung wird von den Feststellungen getragen. Insbesondere wussten die Angeklagten danach, dass die Geschädigte sich „jedenfalls“ bei der Autofahrt nicht entfernen konnte und sich nur aufgrund der Täuschung der Reise nicht widersetzte. Die mittäterschaft­liche Tatbegehung (§ 25 Abs. 2 StGB) hat das Landgericht für alle Angeklagten trag­fähig begründet.

Angesichts der rechts­fehlerfrei festgestellten Zäsur zwischen der Ankunft am Flughafen und der Freiheitsberaubung in Form des gegen die Geschädigte H. verhängten Hausarrestes in dem georgischen Ferienort hat das Landgericht aufgrund der rechts­fehlerfrei getroffenen Feststellungen unter Beachtung der Kognitions­pflicht (§ 264 StPO) zu Recht angenommen, dass eine schwere Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1, 3 Nr. 1 StGB) nicht vorliegt und es für die übrigen festgestellten Straftaten in dem Ferienhaus an der notwendigen Anknüpfung für die Anwendung des deutschen Strafrechts (§§ 3 ff. StGB) fehlt. Denn danach haben die russischen Angeklagten strafbare Handlungen in Bezug auf die inmitten stehenden Vergehen zum Nachteil der russischen Geschädigten ausschließlich in Georgien begangen. Eine schon in Deutschland getroffene und damit dem deutschen Strafrecht unter­fallende (§§ 3, 9 StGB) Verabredung zu einem Verbrechen der schweren Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 30 Abs. 2 StGB) hat das Landgericht nicht feststellen können.

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