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BGH, Urt. v. 21.09.2022 – 6 StR 47/22: Zur Aussetzung mit Todesfolge

Sachverhalt (Rz 3–9)

Der Angeklagte Gr. war der beste Freund des Geschädigten und ein ehemaliger Arbeits­kollege der Angeklagten Mo., der Angeklagte G. ein guter Bekannter aus dem gemeinsamen Freundeskreis. Zusammen fuhren sie am Abend des 11. September 2020 in eine Bar. Sämtliche Beteiligte konsumierten an den Wochenenden regelmäßig beträchtliche Mengen an Alkohol, nicht selten bis zum Eintritt von Rauschzuständen. Bereits während der Anfahrt tranken sie Bier und Wein. In der Bar bestellten sie neben drei Shisha-Pfeifen unter anderem eine Flasche Wodka. Von dieser trank der von den Angeklagten Gr. und Mo. hierzu animierte Geschädigte derart viel, dass er auf dem Weg zur Toilette stürzte, die glühende Kohle einer Shisha-Pfeife mit der bloßen Hand aufnahm, vom Stuhl rutschte und eine zeitlang auf dem Boden liegen blieb. Der Angeklagte G. hingegen, der an diesem Abend als Fahrer fungierte, trennte sich nach kurzer Zeit von der Gruppe und kehrte erst zurück, als er von dem Angeklagten Gr. verständigt wurde, um den gemeinsamen Heimweg anzutreten. Beim Verlassen der Bar benötigte der Geschädigte Hilfe beim Anziehen seiner Jacke und beim Treppensteigen, die er von den Angeklagten Gr. und Mo. erfuhr. Andere Gäste der Bar sahen vor diesem Hintergrund davon ab, dem Geschädigten zu helfen. Der Angeklagte G. unterstützte weder die Mitangeklagten noch entfaltete er eigene Bemühungen. Vielmehr wurde er von dem Geschädigten auf dem Weg zum Parkhaus zunächst verbal und dann auch körperlich angegriffen. Nachdem der Angeklagte G. den Geschädigten ohne große Kraftanstrengung zu Boden gebracht hatte, lief er vorweg, während jener, stark schwankend, in seinem Zustand völlig hilflos und zu keiner Risikoabwägung mehr fähig, abwechselnd von den Angeklagten Mo. und Gr. beim Laufen gestützt und an der Hand geführt wurde.

Während die Gruppe einige Minuten vor dem Parkhaus stand, entfernte sich der Geschädigte unbemerkt. Er stürzte hinter dem Parkhaus eine Böschung hinab und blieb bäuchlings am Ufer eines Flutkanals liegen, wo die Angeklagten ihn wenig später fanden. Der Angeklagte G. verblieb oberhalb der vier Meter hohen Böschung, die anderen beiden stiegen zu dem Geschädigten hinab, der seinen Kopf kaum heben konnte, schluchzte und mehrfach stöhnend gegenüber der Angeklagten Mo. äußerte: „mir geht’s nicht gut“. Diese filmte mit Gr. s Mobiltelefon einige Szenen. Obwohl den Angeklagten bewusst war, dass sich der Geschädigte nicht mehr selbständig helfen konnte, unternahmen sie mehrere Minuten lang keine Anstrengungen, um diesem beizustehen. Der Angeklagte G. forderte die anderen zwar auf, den Geschädigten die Böschung hinaufzubringen. Er setzte jedoch seine Ankündigung, einen Notruf abzusetzen, nicht um und unternahm auch sonst nichts. Nachdem ihm nicht geholfen worden war, versuchte der Geschädigte mindestens fünf Sekunden lang, sich selbst aufzurichten, wobei er schließlich in den mehrere Meter breiten Flutkanal fiel. Währenddessen lachte jedenfalls die Angeklagte Mo. laut auf. Der Angeklagte G. schrieb derweil über das Geschehen eine Textnachricht an einen Bekannten. Der Geschädigte, der sich nur kurzzeitig mit unkontrollierten Bewegungen über Wasser halten konnte, entfernte sich aus dem Sichtfeld der Angeklagten und ertrank innerhalb der nächsten Minuten. Die Angeklagten suchten ihn einige Zeit im Bereich des Parkhauses und der Einsturzstelle, bevor sie den Heimweg antraten. Noch in der Nacht schrieb der Angeklagte Gr. Nachrichten an den Geschädigten und fragte nach dessen Verbleib. Am nächsten Morgen erkundigte sich die Angeklagte Mo. per ebenfalls an den Geschädigten gerichteter SMS nach dessen Wohlergehen. Der Leichnam wurde am Abend dieses Tages nahe der Stelle gefunden, an der der Geschädigte ins Wasser gefallen war. Der Verstorbene wies zum Todeszeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 2,36 Promille sowie eine erhebliche Konzentration des Cannabimimetikums FUB-AMB auf. Der Angeklagte Gr. hatte zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 0,8 bis 1,5 Promille und die Angeklagte Mo. eine solche von höchstens 1,2 Promille, während der Angeklagte G. nüchtern war.

Aus den Gründen (Rz. 10–42)

Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten Gr. und Mo. als Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 StGB) gewertet. Es hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass sie mit der Realisierung der Todesgefahr rechneten und sich mit dem Tod ihres Freundes abfanden oder diesem auch nur gleichgültig gegenüberstanden (§ 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB). Hinsichtlich des Angeklagten G. hat es lediglich den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) als erfüllt angesehen, weil er keine nach den Maßstäben der Garantenstellung begründeten Obhuts- und Beistandspflichten gehabt habe. Die Revisionen der Angeklagten Gr. und Mo. sowie der Nebenkläger haben keinen Erfolg.

1. Das Landgericht hat in nicht zu beanstandender Weise eine Obhuts- und Beistandspflicht der Angeklagten Gr. und Mo. nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB angenommen. Es sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungs­delikte gelten. Hilfspflichten wie diejenigen aus § 323c Abs. 1 StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht aus. Sie folgt auch nicht allein daraus, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand geleistet wird, sondern entsteht erst dann, wenn der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändert, namentlich andere, nicht notwendigerweise sichere Rettungs­möglichkeiten ausschließt oder vorher jedenfalls nicht in diesem Maße bestehende Gefahren schafft.

So verhält es sich hier. Nach den rechts­fehlerfreien Feststellungen halfen die Angeklagten Gr. und Mo. dem „höchstgradig intoxikierten“ Geschädigten nicht nur beim Ankleiden, Treppensteigen und Gehen. Indem sie ihn aus dem Lokal führten und stützend zum Parkhaus begleiteten, entfernten sie ihn zugleich aus dem Einfluss­bereich des Wirtes und weiterer Gäste, die bereits auf seinen hilflosen Zustand aufmerksam geworden waren, sich aufgrund der erkennbaren Unterstützung jedoch nicht zu eigenen Hilfestellungen veranlasst sahen. Hierdurch erhöhten sich die dem Geschädigten außerhalb der Bar drohenden Gefahren wesentlich. Die Pflicht entfiel – anders als die Revision meint – nicht, als der Geschädigte sich am Parkhaus von der Gruppe entfernte. Zwar können die Pflichten einer aus tatsächlicher Übernahme resultierenden Garantenstellung grundsätzlich aufgekündigt oder widerrufen werden. Die Beistandspflicht erlischt aber erst, wenn der auf den Schutz Vertrauende anderweitig eine Gefahrenvorsorge treffen kann, sich nicht mehr in hilfloser Lage befindet oder die Hilfe erkennbar nicht mehr will, was hier jeweils nicht der Fall war. Denn nach der rechts­fehlerfrei gewonnenen Überzeugung des Landgerichts befand sich der Geschädigte aufgrund seiner erheblichen Intoxikation im Moment des Verlassens der Gruppe in einem Zustand, der erkennbar ein eigen­verantwortliches Handeln ausschloss.

Indem die Angeklagten dem am Uferrand liegenden und um Hilfe flehenden Geschädigten eine aussichtsreiche, ihnen mögliche und zumutbare Hilfeleistung versagten, namentlich, weil sie keinen Notruf absetzten, ihn weder beruhigten noch am Aufstehen hinderten, setzten sie ihn der Gefahr aus, infolge eines Sturzes in den Flutkanal schwere Gesundheitsschäden oder den Tod zu erleiden. Auf die von der Revision aufgeworfene Frage, ob den Angeklagten eine Rettung des Geschädigten aus dem Flutkanal möglich und zumutbar war, kommt es nicht an. Der Geschädigte befand sich nach den rechts­fehlerfreien Feststellungen bereits in einer sein Leben gefährdenden Lage, bevor er ins Wasser fiel.

Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich die der Aussetzung eigentümliche Gefahr in der eingetretenen schweren Folge verwirklicht hat (§ 221 Abs. 3 StGB). Aus den rechts­fehlerfreien Feststellungen ergibt sich jedenfalls ein für die Verwirklichung des Qualifikations­tatbestandes ausreichendes, zumindest fahrlässiges Verhalten der Angeklagten.

2. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Verneinung einer Garantenpflicht des Angeklagten G. für das Wohlergehen des Geschädigten. Zwar bildeten die Angeklagten und der Geschädigte aufgrund ihres gemeinsamen Ausflugs eine Gemeinschaft. Die bloße Zugehörigkeit zu einer solchen begründet aber noch keine gegenseitigen Hilfspflichten. Diese entstehen erst mit einer erkennbaren Übernahme einer besonderen Schutz­funktion gegenüber Hilfsbedürftigen aus dieser Gruppe in bestimmten Gefahrenlagen. Dies ist bei losen Zusammenschlüssen etwa zum gemeinsamen Konsum von Alkohol oder Drogen, bei Wohngemeinschaften, bei Fahrgemeinschaften und bei Personen, die sich lediglich zufällig in derselben Gefahrensituation befinden, regelmäßig nicht der Fall. Eine Obhuts- und Beistandspflicht ergab sich für den Angeklagten G. auch nicht aus einer einseitigen Übernahme einer Beschützerfunktion. Denn nach den rechts­fehlerfrei getroffenen Feststellungen hat dieser – über die freundschaft­liche Zusage von Fahrdiensten hinaus – weder durch ausdrückliche Erklärung noch durch schlüssige Handlung zu verstehen gegeben, dass er für das Wohlergehen des Geschädigten in besonderem Maße Sorge tragen werde. Anders als die Mitangeklagten hat er weder unmittelbar Hilfe geleistet noch diese bei ihren Handlungen unterstützt, sondern vielmehr eine gewisse Distanz zum Geschädigten gehalten. Ebensowenig begründete die Beteiligung an der Suche nach dem Geschädigten – entgegen der Ansicht der Revisionen der Nebenkläger – eine Garantenstellung aus Übernahme einer Verantwortung. Weder genügt insoweit die bloße Kenntnis der Hilfsbedürftigkeit, noch folgt allein aus einem tatsächlich geleisteten Beistand eine Pflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung.

3. Die Über­prüfung der angegriffenen Entscheidung hat auch insoweit keinen Rechts­fehler ergeben, als das Landgericht einen Tötungs­vorsatz der Angeklagten verneint hat. Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an. Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände vorgenommen und sich dabei nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt. Es hat seine Überzeugung davon, dass sich der Vorsatz der Angeklagten jeweils nicht auf eine Realisierung der erkannten Gefahr erstreckte, vielmehr mit auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet.

Insbesondere erweist sich die fehlende ausdrückliche Erörterung der vom Landgericht bejahten kognitiven Komponente des bedingten Tötungs­vorsatzes nicht als rechts­fehlerhaft. Das Landgericht hat im Rahmen seiner Begründung des für § 221 Abs. 1 StGB erforderlichen Gefährdungs­vorsatzes die Kenntnisse der Angeklagten trag­fähig dargestellt und gewürdigt. Eine erneute Darstellung dessen im Rahmen ihrer naheliegender Weise hierauf ebenfalls abstellenden Würdigung zum bedingten Tötungs­vorsatzes war – auch eingedenk der unterschiedlichen Bezugspunkte von Gefährdungs- und Schädigungs­vorsatz – entbehrlich. Da die Gefahr begrifflich nichts anderes beschreibt als die naheliegende Möglichkeit einer Schädigung, bleibt beim Vorliegen eines auf die Gefahr des Todes bezogenen Vorsatzes kein Raum mehr für die Verneinung des kognitiven Elements eines bedingten Tötungs­vorsatzes. Denn derjenige, der die Gefahrenlage für das Leben anderer erkennt und sich mit ihr abfindet, weiß um die Möglichkeit des Eintritts eines tödlichen Erfolgs.

Soweit die Revision einwendet, der mit bedingtem Vorsatz handelnde Täter habe regelmäßig kein Tötungs­motiv, ist dies im Ansatz zwar zutreffend, führt aber nicht zur Fehlerhaftigkeit der Erwägung des Landgerichts, das Fehlen eines solchen spreche in diesem Fall gegen ein vorsätzliches Handeln. Denn die Art der Beweggründe kann für die Prüfung von Bedeutung sein, ob der Täter nach der Stärke des für ihn bestimmenden Handlungs­impulses bei der Tatausführung eine Tötung billigend in Kauf nahm. Hier fehlt im Hinblick auf die festgestellte enge Freundschaft des Angeklagten Gr. zum Geschädigten und den Verlauf des Abends ein einsichtiger Grund dafür, dass die Angeklagten in der konkreten Situation seinen Tod billigend in Kauf genommen hätten.

In nicht zu beanstandender Weise hat das Landgericht bei der Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz auch das Nachtat­verhalten der Angeklagten und hier insbesondere die von ihnen versendeten Chatnachrichten herangezogen. Seine Ausführungen lassen dabei weder besorgen, dass es den zur Beurteilung der Vorsatzfrage maßgebenden (Tat-)Zeitpunkt verkannt hat, noch deutet die Wendung „nur dadurch“ darauf hin, dass es andere Interpretations­möglichkeiten von vornherein außer Acht gelassen hat. Der gezogene Schluss – die Angeklagten hätten im Tatzeitpunkt auf ein gutes Ende vertraut – ist jedenfalls revisionsrechtlich hinzunehmen.

Rechts­fehlerfrei hat das Landgericht schließlich die alkoholbedingte Enthemmung der Angeklagten als weiteren Umstand zur Entkräftung des Tötungs­vorsatzes in den Blick genommen. Dies ist auch in Fällen geboten, in denen das Tatgericht eine uneingeschränkte Schuld­fähigkeit bejaht, so dass sich das Landgericht nicht in Widerspruch zu seinen vorhergehenden Feststellungen gesetzt hat.

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