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BGH, Beschl. v. 11.05.2023 – 4 StR 421/22: Zur schweren Körperverletzung

Sachverhalt (Rz. 3–7)

Der Angeklagte befuhr eine zweispurige Bundes­straße mit Standstreifen auf der linken Fahrbahn mit seinem Kraftfahrzeug. Seine Ehefrau, die dem Angeklagten zwei Wochen zuvor ihre Trennung von ihm eröffnet und sich seinem Willen zuwider einem anderen Mann zugewandt hatte, saß auf dem Beifahrersitz. Sie döste wie üblich während der Fahrt, die dem Aufsuchen der gemeinsamen Arbeits­stätte diente. Auf dem nahezu geradlinig verlaufenden Straßenabschnitt beschleunigte der Angeklagte den Pkw und lenkte diesen „zielgerichtet und konstant“ bei durchgetretenem Gaspedal („Kickdown“) in einem Winkel von ca. 40 Grad unvermittelt und ohne verkehrs­bedingten Anlass über die rechte Fahrspur und den Standstreifen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 96 km/h gegen einen Baum mit einem Stamm von etwa 40 Zentimetern Durchmesser, der an dem Grünstreifen auf der rechten Seite neben der Fahrbahn stand. Der Angeklagte nahm hierbei den durch die Wucht des Aufpralls bedingten Tod seiner Ehefrau sowie den Eintritt schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen bei ihr zumindest billigend in Kauf. Er nutzte zudem bewusst aus, dass sich die Nebenklägerin keines Angriffs auf ihre körperliche Unversehrtheit versah, um zu verhindern, dass sie sich durch Eingreifen in das Unfallgeschehen verteidigen kann. Der Pkw kollidierte mit seiner Front auf Höhe der Beifahrerseite mit dem Baum, dessen Stamm bis zur Spritzwand des Motorraums in das Fahrzeug eindrang. Dieses drehte sich sodann um die Hochachse im Uhrzeigersinn um den Baum, bis es entgegen der Fahrtrichtung zum Stillstand kam. Die Nebenklägerin wurde nach der Bergung aus dem Fahrzeug durch Rettungs­kräfte intubiert und beatmet in ein Klinikum eingeliefert, wo mehrere operative Eingriffe erfolgten. Sie befand sich zwei Wochen im Koma. Die Geschädigte erlitt u. a. eine Subarachnoidalblutung, eine Joch- und Nasenbeinfraktur, eine Wirbelkörpersinterung eines Lendenwirbelkörpers, mehrere Knochenfrakturen sowie Lungen- und Milzkontusionen. Bis Oktober 2021 wurde die Nebenklägerin durchgängig stationär behandelt. Sie befindet sich weiterhin in physio-, ergo- und schmerztherapeutischer Behandlung. Zudem leidet die auch psychologisch betreute Geschädigte seit der Tat an Depressionen und fortwährend an erheblichen Schmerzen, welche die Einnahme hochdosierter Schmerzmittel erforderlich machen. Sie kann schmerzbedingt nicht länger als zehn Minuten am Stück stehen und nicht länger als eine Stunde sitzen. Ferner ist sie auf unabsehbare Zeit arbeits­un­fähig. Insbesondere aufgrund des fortbestehenden Querschnittssyndroms wurde bei ihr mit Bescheid vom 18. November 2021 eine Behinderung vom Grad 80 festgestellt. Der weitere Heilungs­verlauf ist unabsehbar. Der Angeklagte musste ebenfalls aus dem beschädigten Fahrzeug geborgen und in das Klinikum verbracht werden. Er trug Arm- und Beinbrüche, mehrere Rippenbrüche und einen Pneumothorax davon.

Aus den Gründen (Rz. 8, 14–16)

Das Landgericht hat den Angeklagten über die neben den weiteren Delikten bejahte gefährliche Körperverletzung mittels des Pkw als gefährlichem Werkzeug und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) hinaus nicht auch wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Eine solche hat es mit der Begründung abgelehnt, eine schwere Folge im Sinne dieses erfolgsqualifizierten Delikts sei nicht feststellbar. Auch ein „Siechtum“ der Nebenklägerin scheide insbesondere deshalb aus, weil trotz ihrer schweren Verletzungen eine Heilung nicht ausgeschlossen sei.

Im Sinne von § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB bezeichnet „Siechtum“ einen chronischen Krankheitszustand, der den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft zieht, ein Schwinden der körperlichen und geistigen Kräfte sowie allgemeine Hinfälligkeit zur Folge hat. Aus dem Tatbestandsmerkmal „verfällt“ folgt, dass die schwere Folge von längerer Dauer sein muss. Eine längere Dauer ist dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genügt, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des – länger währenden – Krankheitszustands nicht abzusehen ist.

Hieran gemessen ist das Landgericht von einem zu engen Begriff des Siechtums im Sinne von § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB ausgegangen, indem es den Tatbestand mit der Begründung verneint hat, eine Heilung der Nebenklägerin sei nicht ausgeschlossen. Die Feststellungen legen nach den vorstehenden Maßgaben vielmehr nahe, dass die Nebenklägerin in „Siechtum“ im Sinne von § 226 StGB verfallen ist. Ihr Gesundheitszustand ist infolge der erlittenen schweren Frakturen trotz der seit der Tat vergangenen Zeit weiter beeinträchtigt; sie leidet bei Einnahme hochdosierter Schmerzmittel an starken Schmerzen. Insbesondere aufgrund des fortbestehenden Querschnittssyndroms wurde ihr ein Grad der Behinderung von 80 zuerkannt. Die Geschädigte ist arbeits­un­fähig und bezieht Pflegegeld. Ein Schwinden auch ihrer geistigen Kräfte wird zumindest durch die tatbedingten Depressionen nahegelegt. Nach den Gutachten zweier Sachverständiger ist der weitere Heilungs­verlauf unabsehbar. Nach den bisherigen Feststellungen kann dem Angeklagten daher auch nicht zugutekommen, dass eine zumindest teilweise Wiederherstellung der Nebenklägerin konkret wahrscheinlich wäre.

Infolge der rechts­fehlerhaften Begründung, mit der das Landgericht ein „Siechtum“ der Nebenklägerin abgelehnt hat, hat es sich zudem den Blick darauf verstellt, dass der Angeklagte sich auch wegen einer absichtlichen oder wissentlichen schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben könnte. Diese bei einem zu bejahenden „Siechtum“ der Nebenklägerin von den Feststellungen zur Vorgeschichte und zum Tatbild nahegelegte Prüfung hat das Landgericht daher rechts­fehlerhaft nicht vorgenommen.

Subsumtion (Rz. 11)

Darüber hinaus trägt die Beweiswürdigung auch die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Heimtückemordes gemäß § 211 Abs. 2 StGB. Insoweit hat das Landgericht nicht nur einen zumindest bedingten Tötungs­vorsatz des Angeklagten belegt. Zugleich hat es rechts­fehlerfrei begründet, dass er die Arg- und die Wehrlosigkeit der Nebenklägerin, die nicht einmal verbal auf ihn einwirken konnte, bewusst ausnutzte. Das Landgericht hat erkannt, dass die Spontaneität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein kann, dass ihm das Ausnutzungs­bewusstsein gefehlt hat. Über den Umstand einer (möglichen) Spontantat hinaus hat es daher ausdrücklich die trennungs­bedingte Belastung des Angeklagten sowie dessen mit der Tat verbundene Eigengefährdung bedacht. Letzteres umfasst auch eine vom Landgericht nicht ausgeschlossene versuchte Selbsttötung, mit der keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung aufgrund einer schweren affektiven Erschütterung einherging. Dass die Strafkammer angesichts der neben ihm „dösenden“ Nebenklägerin angenommen hat, dem Angeklagten sei bewusst gewesen, einen durch seine Ahnungs­losigkeit schutz­losen Menschen zu überraschen, hält sich damit im Rahmen der dem Tatgericht vorbehaltenen Würdigung.

Mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision beanstandet die Staats­anwaltschaft insbesondere, dass der Angeklagte nicht auch wegen schwerer Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB verurteilt worden ist. Diese hat weitgehend Erfolg.

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