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BGH, Beschl. v. 15.08.2023 – 4 StR 227/23: Zum mittäterschaft­lich begangenen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr § 315b StGB

Sachverhalt (Rn. 3–6)

Im Verlauf des Tatabends tauschten der Angeklagte und der Geschädigte im Rahmen der zwischen ihnen bestehenden Streitigkeiten massive Beschimpfungen aus. Unter anderem versandte der Angeklagte eine Sprachnachricht an den Geschädigten mit dem Wortlaut: „Ich weiß, dass du nicht mehr leben willst, dabei werde ich dir helfen“. Zu dem in der Folge verabredeten Treffpunkt in der B. Innenstadt fuhren der Angeklagte und sein Bruder mit einem Pkw, der auf die Lebens­gefährtin des Angeklagten zugelassen war. Der Angeklagte befand sich auf der Rücksitzbank des Fahrzeugs und dirigierte seinen Bruder, der das Fahrzeug führte, zu dem Aufenthaltsort des Geschädigten.

In Ausführung des zuvor an diesem Abend mit dem Angeklagten gefassten Tatplans, den Geschädigten zu töten, beschleunigte der Bruder des Angeklagten das Fahrzeug, als sie den Geschädigten auf dem Bürgersteig vor einem Gebäude entdeckten. Der Bruder des Angeklagten fuhr sodann mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 bis 25 km/h in der Absicht auf den Geschädigten zu, diesen mit dem Fahrzeug zu erfassen bzw. gegen die nahegelegene Hauswand zu quetschen. Der Angeklagte und sein Bruder erkannten, dass der Geschädigte dabei möglicherweise tödliche Verletzungen erleiden könnte; sie nahmen dies jedoch mindestens billigend in Kauf. Der Geschädigte konnte auf die Motorhaube des Pkw springen und sich abrollen; er blieb unverletzt und ergriff die Flucht.

Das LG hat das Geschehen als versuchten Totschlag in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 212 Abs. 1, § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a), §§ 22, 23, 52 StGB gewertet. Den Angeklagten hat es wegen seines erheblichen Tatinteresses und seines Tatbeitrages (Zur-Verfügung-Stellen des Fahrzeugs; Weitergabe des Standorts des Geschädigten an seinen Bruder; Anwesenheit im Fahrzeug) als Mittäter sowohl des versuchten Tötungs­delikts als auch des schweren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr angesehen.

Die Über­prüfung des Urteils ergibt keinen Rechts­fehler zum Nachteil des Angeklagten.

Aus den Gründen (Rn. 7–17)

Ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 StGB liegt vor, wenn durch eine der in den Nummern 1 bis 3 genannten Tathandlungen eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs herbeigeführt worden ist und sich diese abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert verdichtet hat. Dabei kann § 315b Abs. 1 StGB auch mittels eines Kraftfahrzeugs im Rahmen von Verkehrs­vorgängen im fließenden Verkehr verwirklicht werden (sog. Inneneingriff). Dies setzt aber voraus, dass das Fahrzeug in verkehrs­feindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig eingesetzt wird und der Täter das Fahrzeug mit mindestens bedingtem Schädigungs­vorsatz – etwa als Waffe oder Schadenswerkzeug – missbraucht. Erst dann liegt eine über den Tatbestand der Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c StGB hinausgehende und davon abzugrenzende verkehrs­atypische „Pervertierung“ eines Verkehrs­vorgangs zu einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB vor.

Ein verkehrs­feindlicher Inneneingriff kann auch durch einen Mitfahrer eines Kraftfahrzeugs in Mittäterschaft begangen werden. § 315b Abs. 1 StGB stellt kein eigenhändiges Delikt dar, bei dem der Täter nur durch ein eigenes Handeln persönlich den Tatbestand erfüllen kann.

Ein eigenhändiges Delikt ist dadurch gekennzeichnet, dass die Täterschaft an eine bestimmte Ausführungs­handlung gebunden ist, sodass das maßgebliche Unrecht in einem eigenen verwerflichen Tun liegt und nicht in erster Linie aus der Gefährdung oder Verletzung eines Rechts­guts hergeleitet wird. Ob dies der Fall ist, ist mit Rücksicht auf die Fassung des gesetzlichen Tatbestands sowie mit Blick auf den Zusammenhang der einschlägigen Gesetzes­bestimmungen und die Entstehungs­geschichte zu entscheiden.

Gemessen hieran setzt der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB auch in der Fall­gruppe des verkehrs­feindlichen Inneneingriffs kein eigenhändiges Führen eines Kraftfahrzeugs voraus.

Nach dem Wortlaut des § 315b Abs. 1 StGB kann die Sicherheit des Straßenverkehrs von jedermann beeinträchtigt werden. Die Tathandlungen der Nummern 1 bis 3 knüpfen – anders als diejenigen des § 315c StGB – nicht an ein tatbestandlich umschriebenes Verhalten an, das nur eigenhändig verwirklicht werden kann.

Auch in der Fallkonstellation des verkehrs­feindlichen Inneneingriffs setzt § 315b Abs. 1 StGB allein die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale aus einer der Alternativen des § 315b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB voraus. Der spezifische Unrechts­gehalt der Tat liegt dabei darin, dass das Fahrzeug nicht (mehr) als Mittel der Fortbewegung dient, sondern im fließenden Verkehr – gleich einem Fremdkörper – zur Verletzung oder Nötigung eines anderen eingesetzt wird. Dies hat zur Folge, dass es für die Beschreibung des tatbestandlichen Unrechts auch nicht mehr darauf ankommen kann, ob der Täter das Kraftfahrzeug dabei eigenhändig führt.

Systematische Erwägungen führen ebenfalls nicht zu einem anderen Auslegungs­ergebnis. Dies gilt auch mit Blick auf das Verhältnis zu § 315c StGB. Absatz 1 dieser Vorschrift enthält eine enumerative Aufzählung besonders gefährlicher Regelverstöße im Straßenverkehr, die dann zur Strafbarkeit führen, wenn dadurch eine konkrete Gefahr für bestimmte fremde Rechts­güter verur-sacht wird. Demgegenüber wird ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr von § 315b StGB – insoweit ohne Beschränkung auf einen entsprechenden Katalog – dann er- fasst, wenn es sich dabei um einen bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrs­feindlicher Absicht handelt und das Fahrzeug darüber hinaus mit zumindest bedingtem Schädigungs­vorsatz missbraucht wird. Beide Vorschriften haben verschiedene Anknüpfungs­punkte, sodass sich auch die Frage der möglichen Beteiligungs­formen unterschiedlich stellen kann. Damit besteht auch keine Notwendigkeit, den Anwendungs­bereich des § 315b StGB hinsichtlich Täterschaft und Teilnahme auf ein eigenhändiges Delikt zu verengen.

Diesem Verständnis stehen Entscheidungen des Bundes­gerichtshofs nicht entgegen, die einen verkehrs­feindlichen Inneneingriff dahin umschreiben, dass ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrs­feindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt. Denn diese Ausführungen sind auf Konstellationen bezogen, in denen der Täter tatsächlich als Führer eines Kraftfahrzeugs am fließenden Verkehr teilgenommen hat; sie sind jedoch nicht im Sinne einer Beschränkung des tauglichen Täterkreises in Fällen des verkehrs­fremden Inneneingriffs zu verstehen. Vielmehr kommt auch der Beifahrer als tauglicher Täter eines verkehrs­fremden Inneneingriffs in Betracht. In der Rechts­prechung ist im Übrigen anerkannt, dass (auch) ein Fußgänger den Tatbestand des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklichen kann.

Unter den hier gegebenen Umständen tragen die rechts­fehlerfrei getroffenen Feststellungen die Verurteilung des Angeklagten auch wegen des in Mittäterschaft begangenen schweren gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a), § 25 Abs. 2 StGB.

Die Urteilsgründe belegen die Tatherrschaft des das Kraftfahrzeug nicht eigenhändig führenden Angeklagten, der das Tatfahrzeug zur Verfügung stellte, das Fahrziel vorgab, während der Tatausführung im Fahrzeug anwesend war und Einfluss auf die Handlungen seines Bruders nehmen konnte sowie ein erhebliches Tatinteresse aufwies, nachdem er zuvor mit dem Geschädigten Beleidigungen und Bedrohungen ausgetauscht hatte. Auch die subjektiven Tatbestands­voraussetzungen sind erfüllt; insbesondere sind der bedingte Schädigungs­vorsatz des Angeklagten und seine Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen, rechts­fehlerfrei belegt.

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