Leitsatz
Auch nach Wegfall des § 217 StGB aF beginnt bei regulärem Verlauf die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen.
Sachverhalt (Rn. 3–9)
Nachdem die Angekl. zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit als angestellte Hebamme im Klinikbetrieb tätig war, machte sie sich 1998 selbstständig. Im Laufe ihrer Tätigkeit entwickelte sie zunehmend tiefgreifende Vorbehalte gegen Krankenhausgeburten, die sich später zu der ideologischen Sichtweise verfestigten, dass die natürliche Hausgeburt der Klinikentbindung uneingeschränkt vorzuziehen sei. Im Jahr 2014 war die damals 39-jährige Nebenkl. schwanger. Nachdem die Angekl. sie in einem persönlichen Gespräch darin bestärkt hatte, dass eine Hausgeburt gegenüber einer Klinikgeburt vorzugswürdig sei, beauftragte die Nebenkl. die Angekl. mit der Betreuung der Geburt ihrer Tochter. Am 9.1.2015, sechs Tage nach dem errechneten Geburtstermin, kam es gegen 5.00 Uhr bei der Nebenkl. zum Blasensprung; abends setzten die Eröffnungswehen ein. Die Geburt schritt jedoch nur sehr langsam voran und zog sich über mehrere Tage hin. Bei der Nebenkl. dadurch hervorgerufene Zweifel schob die Angekl. auf deren hormonell bedingte Gefühlslage. Sie beruhigte die Nebenkl. wiederholt mit der Zusicherung, dass sie sofort eine Verlegung ins Krankenhaus veranlassen würde, wenn die Geburt nicht voranschreite. Am 11.1.2015 um 4.20 Uhr führte die Angekl. einen Test durch, mit dem sie den zwei Tage zuvor erfolgten Blasensprung sicher diagnostizierte. Am 12.1.2015 um 19.30 Uhr war der Muttermund der Nebenkl. 7 bis 8 cm geöffnet. Am 13.1.2015 um 4.45 Uhr verspürte die Nebenkl. einen stechenden Schmerz im Bauch und nahm fortan keine Kindsbewegungen mehr wahr. Die Angekl. stellte fest, dass der Muttermund sich seit der letzten Untersuchung nicht vergrößert hatte. Gegen 6.30 Uhr verringerte sich die Wehentätigkeit. Um 13.15 Uhr stellte die Angekl. fest, dass der Herzschlag des Kindes nicht darstellbar war. Eine sofort veranlasste Ultraschalluntersuchung bei der Hausärztin der Nebenkl. offenbarte einen stark verlangsamten Herzschlag des Kindes, woraufhin ein Rettungswagen alarmiert wurde. Spätestens auf dem einstündigen Transport in das Krankenhaus verstarb die Tochter der Nebenkl. an einer Hypoxie durch Aspiration eitrigen Fruchtwassers. Die Nebenkl. brachte das Kind mithilfe der Zugabe wehenfördernder Mittel am 13.1.2015 um 21.22 Uhr tot zur Welt. Zu den medizinisch relevanten Zusammenhängen hat das sachverständig beratene LG im Wesentlichen festgestellt, dass nach einem Blasensprung regelmäßig Blut und Körpertemperatur der Kindsmutter auf Entzündungszeichen zu untersuchen sind, weil mit der Eröffnung der Fruchtblase das Risiko einer Fruchtwasserinfektion einhergeht. Dem ist die Angekl. im Verlauf der Geburt zu keinem Zeitpunkt nachgekommen. Zudem ist laut den Leit- und Richtlinien der Geburtshilfepraxis nach Eröffnung der Fruchtblase innerhalb von 18 bzw. spätestens 24 Stunden eine – in der Regel prophylaktische – Antibiotikatherapie durchzuführen, wenn nicht absehbar ist, dass die Geburt unmittelbar bevorsteht. Ist dies mangels ärztlicher Beteiligung bei der Hausgeburt nicht möglich, ist die Verlegung in ein Krankenhaus zu veranlassen. Bei der zwingend gebotenen Verlegung der Nebenkl. 24 Stunden nach der sicheren Diagnose des Blasensprungs, mithin am 12.1.2015 um 4.20 Uhr, wäre der Tod der Tochter der Nebenkl. mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ zu vermeiden gewesen. Im Falle einer Verlegung bis zu dem „für die günstigsten zu unterstellenden, zugleich letztmöglichen Zeitpunkt am 13.1.2015 um 4.45 Uhr“ hätte nur noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Überleben des Kindes bestanden.
Zur subjektiven Tatseite hat das LG Folgendes ausgeführt: Unter dem Einfluss ihrer manifesten ideologischen Sichtweise habe die Angekl. im Rahmen der Betreuung der Nebenkl. „in arroganter und selbstüberschätzender Art und Weise“ entgegen allen medizinischen und geburtshilflichen Standards und der für Hebammen geltenden gesetzlichen und berufsordnungsrechtlichen Regelungen gehandelt. Ihr seien die geltenden Leit- und Richtlinien sowie die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt und sie sei sich insbesondere darüber im Klaren gewesen, dass aus einer unterbliebenen Antibiotikabehandlung das große Risiko und die hohe Wahrscheinlichkeit einer Fruchtwasserinfektion resultiere und die zwingende Folge einer unbehandelten Fruchtwasserinfektion bei nicht alsbald erfolgender Geburt der Tod des Kindes sei. Bereits am 12.1.2015 um 4.20 Uhr habe die Angekl. nicht mehr auf einen günstigen Ausgang der Geburt vertrauen können und dürfen. Jedenfalls sei der Tod des Kindes bei weiterem Untätigbleiben der Angekl. am 13.1.2015 um 4.45 Uhr sicher gewesen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe sich die Angekl. mit dessen Tod abgefunden.
Vor diesem Hintergrund hat das LG die Angekl. wegen Totschlags durch Unterlassen in Tateinheit mit Körperverletzung durch Unterlassen.
Aus den Gründen (Rn. 10 ff.)
Der Schuldspruch hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.
Allerdings steht der Verurteilung der Angekl. wegen Totschlags nach § 212 I StGB nicht entgegen, dass die Tochter der Nebenkl. im Mutterleib verstorben ist. Das Kind unterfiel im Todeszeitpunkt nicht mehr dem begrenzten strafrechtlichen Schutz des § 218 StGB.
Die Abgrenzung zwischen den §§ 211 ff., § 222 StGB einerseits und § 218 StGB anderseits wird von der Rechtsprechung von dem Beginn der Geburt abhängig gemacht. Der BGH hat bereits entschieden, dass dies nach Streichung des zum 26.1.1998 außer Kraft getretenen § 217 StGB weiterhin gilt.
Ferner ist daran festzuhalten, dass für den Beginn der Geburt bei regelmäßigem Verlauf der Zeitpunkt maßgeblich ist, an dem die Eröffnungswehen einsetzen. Das Außerkrafttreten des § 217 StGB aF hat auch insoweit zu keiner Änderung der Rechtslage geführt.
Allerdings wird teilweise nicht der Beginn der Eröffnungs-, sondern derjenige der Presswehen als maßgeblich angesehen. Noch weiter einschränkend hatte das RG ursprünglich auf den Beginn des Austritts des Kindes aus dem Mutterleib abgestellt.
Diesen Auffassungen ist nicht zu folgen. Die Auslegung der einschlägigen Vorschriften ergibt, dass die Geburt bei regelmäßigem Verlauf mit Einsetzen der Eröffnungswehen beginnt.
Nach dem vom Gesetzgeber bezweckten und nach Art. 2 II 1 GG gebotenen durchgängigen Schutz des menschlichen Lebens muss die Strafbarkeit nach den §§ 211 ff. StGB dort beginnen, wo diejenige aus § 218 StGB endet. Es gibt während der Geburt keine Zeitspanne, in der die Tötung des Kindes einerseits zwar nicht mehr nach § 218 StGB, andererseits aber noch nicht nach den §§ 211 ff. StGB unter Strafe gestellt ist.
Der Zeitpunkt, der die Zäsur zwischen § 218 StGB und den §§ 211 ff. StGB bildet, ist unter Berücksichtigung des Wortlauts und der Schutzrichtung dieser Vorschriften zu bestimmen.
§ 218 StGB stellt den Abbruch der Schwangerschaft unter Strafe. Eine Schwangerschaft kann jedoch im Wortsinne nicht mehr abgebrochen werden, wenn sie sich bereits in Selbstauflösung befindet. Dies ist aus medizinischer Sicht grundsätzlich bereits dann der Fall, wenn die Eröffnungswehen eingesetzt haben, weil mit diesen im Normalfall der Geburtsvorgang beginnt.
Der hieraus resultierende strengere Strafrechtsschutz ist zudem deshalb geboten, weil auch die Eröffnungsperiode zu dem Zeitraum gehört, in dem beispielsweise bei Wehenschwäche und bei starken Wehen, aber auch bei Vorliegen von Geburtshindernissen medikamentöse und operative Geburtshilfen erforderlich werden können. Bereits in dieser Phase bedarf das Kind daher des besonderen strafrechtlichen Schutzes auch gegenüber fahrlässigen Einwirkungen.
Demgegenüber begegnen die Ausführungen zur subjektiven Tatseite in dem angefochtenen Urteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Allerdings beschwert es die Angekl. nicht, dass das LG bei der Beurteilung des Tötungsvorsatzes von den privilegierenden Grundsätzen ausgegangen ist, die die Rechtsprechung für Angehörige eines medizinischen Heilberufs entwickelt hat, obwohl deren Anwendung zweifelhaft ist, wenn die betreffende Person – wie hier – maßgebliche medizinische Standards ablehnt.
Jedoch wird die Annahme eines Totschlags von den Feststellungen nicht getragen. Denn ein Unterlassen ist nur dann ursächlich für den Erfolg, wenn dessen Eintritt bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. So liegt es hier nicht.
Zwar geht die Strafkammer davon aus, dass der Angeklagten bereits am 12.1.2015 um 04.20 Uhr bewusst gewesen sei, dass sie sich mit ihrem Verhalten konträr zu allen ärztlichen Leitlinien und solchen des Hebammenberufs verhalten habe und dass aufgrund des unverhältnismäßig lang andauernden Geburtsverlaufs erhebliche Risiken für das Leben des Kindes bestanden hätten. Die habe zu diesem Zeitpunkt, in dem der Tod des Kindes bei der gebotenen Verlegung der Nebenkl. in ein Krankenhaus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindert werden können, auf einen günstigen Ausgang der Geburt nicht mehr vertrauen dürfen.
Aus den Wendungen, dass der Angekl. „spätestens ... am 13.1.2015 um 04.45 Uhr klar und bewusst (war), dass ein weiteres Zuwarten ... unweigerlich zum Tod“ des ungeborenen Kindes führen würde und „sie sich spätestens zu diesem Zeitpunkt“ mit dem Tod des Kindes abgefunden habe, ergibt sich indessen, dass das LG erst für den frühen Morgen des Todestags den Tötungsvorsatz der Angekl. festgestellt hat. Zu diesem Zeitpunkt bestand jedoch nach den Feststellungen nur noch eine „gewisse“ Wahrscheinlichkeit für die Rettung des Kindes.
Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Totschlags durch Unterlassen zieht die Aufhebung der tateinheitlichen Verurteilung wegen Körperverletzung durch Unterlassen und des Rechtsfolgenausspruchs nach sich. Um dem neuen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat sämtliche Feststellungen auf. Sollte auch das neue Tatgericht zu einer Verurteilung wegen Totschlags gelangen, wird es – anders als dies im angefochtenen Urteil geschehen ist – widerspruchsfreie Feststellungen zum Tötungsvorsatz zu treffen, insbesondere deutlich zu machen haben, ob es von bedingtem oder direktem Vorsatz ausgeht.